© Alexander Meschnig

Die Medikalisierung des Politischen
Nationalsozialismus und Bioethik

Analog zu einem theokratischem System mit seinen Ordenshütern und heiligen Verpflichtungen könnte man den nationalsozialistischen Staat als eine Biokratie bezeichnen. Der Arzt als "Pfleger des Volkskörpers" und "biologischer Soldat" war für die biomedizinische Vision der nationalsozialistischen Eschatologie von herausragender Bedeutung. Auch Adolf Hitler hatte sich bereits 1925 in Mein Kampf als Chirurg am staatlichen Organismus vorgestellt, der die in seinen Augen krankhaften Teile der Gesellschaft mit scharfen und präzisen Schnitten entfernen wollte. Zweifellos muß die Medikalisierung des Tötens, die Tötung im Namen einer höheren und umfassenderen Heilung, als Schlüssel für ein Verständnis der Massenmorde herangezogen werden. Mehr noch: das Töten als therapeutischer Imperativ steht im Zentrum der nationalsozialistischen Praktiken. Angefangen mit dem kurz nach Hitlers Machtergreifung im Juli 1933 geschaffenen "Erbgesundheitsgesetz" über die Praxis der "Euthanasie" bis hin zu den Massenmorden in den Gaskammern der polnischen Vernichtungslager: es wurde stets im Namen höherer biologischer Prinzipien gehandelt. Im Mittelpunkt stand die Idee einer umfassenden Katharsis. So wie Hitler im Krieg den großen "Reiniger der Nation" erblickte, so sollte die Medizin in Kombination mit der Biologie ein symbolisch konsistentes Universum schaffen: die perfekte Rassengemeinschaft. Rudolf Heß, der Stellvertreter des Führers, brachte dies im Jahre 1934 auf die einfache Formel: "Nationalsozialismus ist nichts anderes als angewandte Biologie."

Nun hat nicht erst der Nationalsozialismus sozialdarwinistische und rassenhygienische Vorstellungen erfunden. Die imperialistische Politik des 19. Jahrhunderts ging von einer selbstverständlichen Überlegenheit der weißen Rasse aus, innerhalb derer es wiederum hierarchische Abstufungen und soziale Schichten gab. Der Begriff der Eugenik wurde Ende des 19. Jahrhunderts von dem britischen Naturforscher und Mathematiker Francis Galton geprägt und entstand innerhalb der breiteren Bewegung des Sozialdarwinismus. Eugenik war definiert als "die Wissenschaft von der Aufwertung der menschlichen Rasse durch verbesserte Fortpflanzung." Die Eugenik verklammerte von Beginn an Biologie und Gesellschaftswissenschaften, der moderne Staat sollte, ganz den Prinzipien der Staatsräson verpflichtet, einer vernunftorientierten Sozialpanung unterworfen werden. Während in den USA zu Beginn vor allem Psychologen eine aktive Rolle in der eugenischen Bewegung spielten, wurde die Eugenik in Deutschland wesentlich von akademischen Psychiatern getragen, die in staatlichen Heilanstalten und Universitätskliniken arbeiteten. Die Psychiatrie teilte im wesentlichen die Ansichten über die Degeneriertheit der unteren Klassen, machte aber darüber hinaus soziale Urteile wie <Entartung>oder <Minderwertigkeit> zu diagnostischen, also medizinischen Begriffen. Später führten dann nichtmedizinische Definitionen wie Asozial, Rassenschänder, Gemeinschaftsunfähig, Gewohnheitsverbrecher u.a. unmittelbar zum Tod.

Bis zur Niederlage im Ersten Weltkrieg konzentrierten sich die deutschen Eugeniker auf eine positive Eugenik, d.h. auf die Förderung der Fortpflanzung von Erbgesunden. Nach der Kapitulation im November 1918 verlangten Biologen, Ärzte und Hygieniker verstärkt, daß der Staat die sozialen Verhältnisse auf eine "wissenschaftliche" Grundlage stellen solle. Gemeint war, daß die Gesunden und Wertvollen zu fördern seien, die Schwachen aber auszulesen und ihre Reproduktion durch entsprechende Maßnahmen zu verhindern. Begründet wurde das mit der negativen Auslese des Krieges, der die wertvollsten Teile der Gesellschaft dem Tode ausgeliefert hatte, während zur selben Zeit die <schlechten Elemente> kostenintensive staatliche Fürsorge bekamen.

Die Psychiatrie trat in den 20-er Jahren dabei aufgrund der Spezifik der ihr überantworteten Patienten immer mehr ins Zentrum der Debatten um rassenhygienische Maßnahmen. Kostenrechnungen, die zeigen sollten, wie sehr der Staat durch die jährlichen Ausgaben für Unheilbare belastet wurde, bestimmten die Diskussionen vordergründig. Die Vision eines rassereinen, biologisch gesunden Volkskörpers stand aber bereits nach dem Ersten Weltkrieg im Zentrum des Denkens von Medizinern, Psychiatern und Anthropologen. Aufgrund ihrer Fokussierung auf die "Hochzüchtung der weißen Rasse" wurden die deutschen Rassenhygeniker schnell zu führenden Protagonisten der Internationalisierung der eugenischen Bewegung. Mit der weitgehenden Isolierung deutscher Wissenschaftler nach dem Ersten Weltkrieg ging die deutsche Rassenhygiene immer mehr einen nationalistischen Sonderweg. Allerdings konnten sich die Ideen zur Zwangssterilisation wie auch der Ermordung unheilbar Kranker weder in den ärztlichen Organisationen noch bei den Gesundheitsbehörden der Weimarer Republik allgemein durchsetzen. Erst der Nationalsozialismus ging von der rhetorischen Radikalität und amorphen Bildwelt der rassischen Ideologie zur tatsächlichen Praxis über.

Programme für eine Zwangssterilisation hat es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland gegeben, sondern in einem großen Teil der westlichen Welt, vor allem in den USA. Bis 1920 wurden in 25 Bundesstaaten Gesetze verabschiedet, die Zwangssterilisationen von kriminellen Geisteskranken und anderen Menschen, die man für minderwertig hielt, erlaubten. Es ist so kein Wunder, daß Fritz Lenz, deutscher Mediziner und Genetiker 1923 bemängelte, daß seine Landsleute auf dem Gebiet der Sterilisation weit hinter den USA und anderen Ländern zurückgeblieben wären. Für Lenz wie für die anderen Rassenhygieniker wurde die Errichtung eines Systems der Zwangssterilisation in den 20-er Jahren zu einer heiligen Mission zur Rettung des deutschen Volkskörpers. Konsequenterweise wandten diese Professoren sich ab 1933 dem mit gleichen Zielen angetretenen Nationalsozialismus zu. Genetische und medizinische Visionen verbanden sich mit einer totalitären politischen Struktur.

Kurz nach Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 verwirklichte das NS-Regime durch die Verabschiedung des Erbgesundheitsgesetzes auf dem Gebiet der Sterilisation erstmals seine biomedizinischen Vorstellungen. Zur Abwendung der drohenden Gefahr des "Volkstodes" war vorgesehen, daß rund 400.000 "Erbkranke", die an Krankheiten wie Schizophrenie oder Epilepsie litten, unfruchtbar gemacht werden sollten. Das Erbgesundheitsgesetz vom 14. Juli 1933 ordnete die Errichtung besonderer Erbgesundheitsgerichte an, in denen jeweils ein Arzt, ein Gesundheitsbeamter und ein Berufsrichter über Anträge auf Sterilisation zu entscheiden hatten. Die Anträge wurden im allgemeinen positiv entschieden, nur in etwa 10% der Fälle wurden sie abgelehnt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß die Sterilisationsbeschlüsse gesetzlich legal waren, eine Tatsache, die bei den Mordprogrammen der "Euthanasie" oder der sogenannten Endlösung nicht mehr der Fall war. Nach erhalten gebliebenen Statistiken des NS-Justizministeriums wurden von 1934-36 etwa 200.000 Menschen sterilisiert (zum Vergleich: in den USA von 1911 bis 1951, also in 40 Jahren, etwa 50.000).

Der wichtigste medizinische Vertreter des Sterilisationsprogramms war Ernst Rüdin, ein international angesehener Psychiater, der zunächst Schüler von Emil Kraepelin war und später enger Mitarbeiter von Alfred Ploetz, mit dem er zusammen die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene gründete. Als Direktor des Forschungsinstitutes für Psychiatrie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in München trug Rüdin wesentlich zur wissenschaftlichen Legitimation der Rassenpolitik bei. Insgesamt läßt sich sagen, daß ein großer Teil der Ärzteschaft sich schon vor der Gleichschaltung im Nationalsozialistischen Ärztebund organisiert hatte. 45% aller Ärzte traten der NSDAP bei, auch in der SA und SS waren sie stärker vertreten als andere Akademikergruppen.

Nun ist es ein großer Schritt für einen Arzt von der Sterilisation bis zur Tötung oder der Freigabe zur Tötung von Patienten. Die medizinische Gleichschaltung machte diesen Schritt möglich. Die Nationalsozialisten konnten die aktive Beteiligung eines breiten Spektrums deutscher Ärzte, vor allem der Psychiater, mit einem Geheimplan verbinden, der aus den höchsten Parteikreisen stammte. Wiederum wurde nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern der „Gnadentod„ stark befürwortet. In Deutschland wurde der Mord an Unheilbaren seit der Zeit des Einflusses des "wissenschaftlichen Rassismus" in intellektuellen Kreisen Ende des 19. Jahrhunderts heftig diskutiert. Wesentlich für diese Entwicklung war die Hervorhebung der Integrität des organischen Volkskörpers, also der Nation als einer rassisch-kulturellen Instanz. Die eigene Nation erschien als ein Organismus, dessen Leben man erhalten und dessen Tod man bekämpfen mußte und zwar in einer Weise, in der das individuelle Schicksal keine Rolle spielen durfte.

Adolf Jost veröffentlichte bereits 1895 einen frühen Aufruf zu direkten medizinischen Tötungen mit dem bezeichnenden Titel: Das Recht auf den Tod. Jost behauptete, daß die Kontrolle über den Tod des Individuums letztlich dem sozialen Organismus, also dem Staat zustehe. Die wichtigste Schrift für die Euthanasiedebatte war aber das Werk zweier berühmter deutscher Professoren. Sie erschien 1920 als gemeinsames Programm des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche. Ihr Werk mit dem Titel Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens betrachtete als lebensunwert nicht nur die unheilbaren Kranken, sondern große Gruppen der Geisteskranken, der zurückgebliebenen und physisch deformierten Kinder. Darüber hinaus machten sie aus der Vorstellung des lebensunwerten Lebens ein juristisches und medizinisches Konzept. Und sie hoben auch das therapeutische Ziel hervor, die Vernichtung lebensunwerten Lebens sei eine reine Heilbehandlung zum Wohle der Allgemeinheit.

Binding und Hoche erwiesen sich als die Propheten direkter medizinischer Tötungen. Ihre Thesen hatten zu regen Diskussionen deutscher Psychiater geführt, vor der Machtübernahme der Nazis repräsentierten ihre Vorstellungen aber nicht die herrschende Meinung der deutschen Psychiatrie. Erst ab Sommer 1933 tendierte die medizinische Diskussion des Sterilisationsprojekts immer mehr in die Richtung von radikaleren Maßnahmen. Heilanstalten für Geisteskranke wurden zu den wichtigsten Zentren für die Umsetzung der Euthanasiemaßnahmen. Von 1934 an wurden die psychiatrischen Anstalten dazu ermuntert, ihre Patienten zu vernachlässigen, finanzielle Mittel wurden reduziert, staatliche Gesundheitsinspektionen erfolgten nur noch pro forma oder gar nicht mehr. Besonders wichtig waren Kurse für Regierungsbeamte und Funktionäre, die in psychiatrischen Heilanstalten stattfanden, um das <abstoßende Verhalten> von Patienten, eben lebensunwerten Lebens, vorzuführen. 1938 wurden diese Kurse auf Mitglieder der SS, Parteipersonal, Polizei, Gefängniswärter und die Presse ausgeweitet. Damit wurde ein Klima der Akzeptanz der beabsichtigten Morde vorbereitet. Für die breite Öffentlichkeit sollte der Film diese Rolle übernehmen. Ärzte und Psychiater spielten auch hier eine wichtige beratende und legitimierende Rolle. Filme wie Das Erbe (1935), Opfer der Vergangenheit (1937) oder der berühmte Ich klage an (1941) sollten die öffentliche Meinung dahingehend manipulieren, daß von einer Unterstützung für die Legalisierung des Mordprogrammes ausgegangen werden konnte. Der Sicherheitsdienst der SS stellte zu dieser Zeit fest, daß die Mehrheit der Bevölkerung zustimmend reagierte, die Frage des Mißbrauchs der "Euthanasie" aber heftig diskutiert würde. Diese Vorbehalte könnten aber durch die Einberufung eines medizinischen Ausschusses überwunden werden.

Ende Oktober 1939, kurz nach den militärischen Erfolgen in Polen, erteilte Adolf Hitler dem Chef der Reichskanzlei Phillip Bouhler und seinem Begleitarzt Karl Brand dann einen Auftrag demzufolge sie "unter Verantwortung beauftragt waren, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischter Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann." Die Ermächtigung, auf Privatpapier geschrieben, war von Hitler auf den 1. September, den Beginn des Krieges, rückdatiert. Aber bereits im Frühjahr desselben Jahres war mit Hitlers ausdrücklicher Erlaubnis mit dem Mord an behinderten Kindern in Anstalten begonnen worden. Bouhlers Führerkanzlei errichtete dafür eine Tarnorganisation, den Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erforschung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden. Am 18. August 1939 gab das Innenministerium einen Runderlaß heraus, der alle Ärzte, Psychiater und Hebammen anwies, Kinder unter drei Jahren mit bestimmten Behinderungen dem Reichsausschuß zu melden. Dieser traf dann die Entscheidung ob das Kind zum "Gnadentod" an eine "Kinderfachabteilung" überstellt werden sollte.

Die systematische Ermordung behinderter Erwachsener war der konsequente nächste Schritt. Unter der Leitung von Victor Brack wurde dafür in den letzten Monaten des Jahres 1939 eine Aktionszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 (T4) eingerichtet. Das Unternehmen war selbst nach Rechtsbegriffen des Dritten Reiches illegal und Hitler hatte auch nicht die Absicht, das Geheimprogramm öffentlich zu machen, obschon die beteiligte Ärzteschaft auf eine staatliche Legalisierung der Euthanasie drängte. Während die bei T4 angestellten Ärzte Medikamente verabreichten, um behinderte Kinder zu töten oder sie schlicht verhungern ließen, verlangte die weitaus größere Zahl an Erwachsenen nach einer anderen Methode. Für diese Gruppe errichteten die Techniker von T4 eigene Institutionen für den fabrikmäßigen Massenmord. Insgesamt gab es sechs Haupttötungszentren, bezeichnenderweise umgebaute Kliniken für Geisteskranke oder Alterspflegeheime in abgelegenen Gebieten. Angesichts der medizinischen Aura des Tötens, deren Anschein stets aufrecht erhalten wurde, mußte jeder Totenschein gefälscht werden. Es war unvermeidlich, daß der Bürokratie der Täuschung Fehler unterliefen, die im wesentlichen aus der inneren Widersprüchlichkeit des Programms resultierten, die eine strikte Geheimhaltung unmöglich machten.

Der wichtigste Fachverband in dem T4-Mediziner organisiert waren, war die Gesellschaft deutscher Neurologen und Psychiater. An der Spitze dieser 1935 gegründeten Gesellschaft stand Ernst Rüdin, viele bekannte Psychiater und Neurologen saßen im Vorstand: Walter Creutz, Max de Crinis, Werner Heyde, Paul Nische, Carl Schneider und Viktor von Weizsäcker. Die Gesellschaft diente als Sammelbecken für Talente und Ideen für das Euthanasieprogramm. Paradoxerweise mußten die Psychiater aber - im Maße wie die "Euthanasie" fortschritt - um den zukünftigen Status ihres Faches bangen. Denn irgendwann hätten sie überhaupt keine Patienten mehr gehabt. Als sich das Morden zur Hauptaufgabe der Psychiatrie entwickelte, sank nicht nur das Ansehen des Berufszweiges, so das Angehörige potentieller Patienten den Kontakt zu psychiatrischen Einrichtungen zu meiden begannen, sondern es gab auch kaum mehr Medizinstudenten die Psychiatrie als Spezialfach wählten.

Es war so nur konsequent, daß die Psychiatrie sich neuen Therapien zuwandte, vor allem Schockbehandlungen durch elektrischen Strom oder Medikamente. Man muß hier dazusagen, daß die Psychiatrie die Konkurrenz der Psychotherapeuten fürchtete, denen zwar der Vorwurf jüdischer Gedanken (Freud, Adler) gemacht wurde, die aber in Matthias Göring, einem Vetter des Reichsmarschalls Hermann Göring, einen starken Protege hatten. Die neuen Therapien sollten die Psychiater vom Ruch der "Euthanasie" befreien, Direktoren nannten ihre Anstalten nun in Kliniken um, damit die medizinische Aura stärker betont wurde. Man kann den Spagat der Psychiatrie in den Worten eines jungen T4 Arztes, Robert Müller, so zusammenfassen: "Also für die Zukunft: Keine Pflegeanstalten für tiefstehende Fälle, sondern nur Heilanstalten mit akivster Therapie und wissenschaftlicher Arbeit und – mit Euthanasiemöglichkeiten." Alle Therapie für die Heilbaren, Euthanasie für die Unheilbaren – diese Kombination hat in den Nürnberger Ärzteprozessen stets dieselben Paradoxien von ärztlichem Mörder und gewissenhaften Therapeuten zu Tage gebracht.

Am 24. August 1941 befahl Hitler das Ende der ersten Phase der Erwachsenen-"Euthanasie". Es war wohl weniger die schmale Opposition der Kirche, als das in der Öffentlichkeit verbreitete Wissen, das diesen Stopp verursachte. Tatsächlich ging die "Kindereuthanasie" ohne Unterbrechung weiter, wie auch die "Euthanasie" an Erwachsenen sich später mit großer Intensität - aber unsichtbar - fortsetzte. Viele Mitarbeiter von T4 (rund 100) wurden schließlich nach Polen versetzt, um sich dort an den weitaus größeren Mordaktionen im Rahmen der "Endlösung der Judenfrage" zu beteiligen. (Ein Beispiel: Dr. Irmfried Eberl, der Leiter der Mordzentren Brandenburg und Bernburg wurde 1942 kurze Zeit Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka; er wurde schließlich von Franz Stangl, einem ehemaligen Polizeioffizier der Euthanasieanstalt Hartheim bei Linz abgelöst). Die Vernichtungspraxis verlor also nichts von ihrer Dynamik, im Gegenteil weitete sich der Kreis der Opfer stetig aus. Zunächst wurde er auf eine Reihe von KZ-Häftlingen erweitert, die im Rahmen der Aktion 14f13 in den Tötungszentren der Euthanasie ermordet wurden. Zum ersten Mal arbeiteten hier SS und T4 zusammen, eine Verbindung, die ebenso wie die Ermordung behinderter jüdischer Patienten etwa ein Jahr vor dem Massenmord in den sowjetisch besetzten Gebieten durch die SS-Einsatzgruppen, den Konnex zwischen "Euthanasie" und "Endlösung" anzeigt.

Das NS-Regime ermordete drei Gruppen von Menschen systematisch: Behinderte, Juden und Zigeuner. Dem Genozid an Juden und Zigeunern ging die "Euthanasie" als eine Art von "kleinem Genozid" voran, an der man sowohl die Technologie (Giftgas), die Personalstruktur und die Institutionen (Tötungszentren) für das weitaus größere Massenmordprogramm im Rahmen der "Endlösung" entwickelte. Auf die Aufrechterhaltung einer medizinischen Aura wurde aber stets Wert gelegt. So oblag etwa in Auschwitz die Auswahl der Opfer, die Überwachung der Gaskammern und die Durchführung der Tötungsmechanismen ärztlicher Kompetenz.

Die radikale Medikalisierung des Politischen geht stets von einer "wissenschaftlich diagnostizierten" Abweichung aus. Diese wird nicht mehr als individuelle oder politische Opposition betrachtet, sondern als Krankheit definiert. Für die Heilung einer Krankheit ist im biomedizinischen Diskurs alles erlaubt und so werden sämtliche verfügbaren Mittel legitim. Die Ermordung von Behinderten, Juden oder Zigeunern wird in ihrer medikalisierten Variante zu einer ethisch-biologischen Notwendigkeit und nichts hat die in Nürnberg angeklagten Ärzte stärker entrüstet, als der Vorwurf der Anklagevertretung, mit der "Euthanasie" sollten lediglich unnütze Esser beseitigt werden. Man verkennt den innersten Gehalt des Nationalsozialismus mit ökonomischen Argumenten. Jede institutionell organisierte Handlung bedarf auch einer Vision. Die Vision - oder wie Hitler sich ausdrückte: die "heilige Pflicht" - bestand in der Errichtung der rassereinen Gemeinschaft, in der Verschmelzung des Einzelnen mit einem mystischen Kollektiv. Die deutsche Psychiatrie hat maßgeblich an diesem Konzept mitgearbeitet und die ihr anvertrauten Patienten einem "therapeutischem Mord" unterzogen, der als ein Element mit zur Reinigung und Konstituierung der "arischen Rasse" beitragen sollte. Das visionäre medizinische Heilsprojekt – und damit komme ich nochmals auf die eingangs erwähnte Ähnlichkeit von Theologie und Medizin zurück- kann wohl nicht besser beschrieben werden, als in den Worten des Arztes und Schriftstellers Hanns Löhr, der 1935 konstatiert, daß der Nationalsozialismus "dem Arzt wieder sein Priestertum und die Heiligkeit seines Berufes zurückgegeben habe." Gerade weil der ärztliche Beruf an der schmalen Grenze zwischen Leben und Tod angesiedelt ist, ist er am ehesten dazu prädestiniert "biologischer Aktivist" für eine Form der Politik zu werden, die sich auf höhere Prinzipien beruft.

Abschrift eines Vortrags, der am 24.11.2000 am Schauspielhaus Hannnover gehalten wurde

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