Museum der Wahnsinnigen Schönheit





Zwei aktuelle Texte zur Geschichte des ärztlichen Massenmords

und als Literaturhinweis
"die Klassiker"
  Ernst Klee:
"Die Hungermorden in den Anstalten 1945-47 und die Verbrechen der Psychiatrie davor" Vortrag am 6.8.´99

Elvira Manthey:
"Die Hempelsche" - Bericht einer Zeitzeugin
(per e-mail zu bestellen: hempelsche@aol.com)

Henry Friedlander:
"Der Weg zur NS-Genozid - Von der Euthanasie zur Endlösung"
Berlin Verlag, 640 Seiten, 58,- DM

Ernst Klee - Bücher:
- "Euthanasie im NS-Staat", Fischer Nr. 4326, 19,80 DM
- "Dokumente zur Euthanasie", Fischer Nr. 4327, 18,90 DM

Götz Aly:
"Aktion T4 1939-45. Die "Euthanasie"-Zentrale in der Tiergartenstrasse 4", Edition Hentrich, 29,80 DM


Heilen und Vernichten
Der Mord an psychisch Kranken und geistig Behinderten im "Dritten Reich"

Vortrag von
Dr. Hans-Walter Schmuhl ©
am 13.9.´99 bei einer Veranstaltung der Topographie des Terrors


Als der 1. Amerikanische Militärgerichtshof am 20. August 1947 im Nümberger Ärzteprozeß sein Urteil sprach, da wurden zwei Männer zum Tod durch den Strang verurteilt, die man sich gegensätzlicher kaum vorstellen kann. Der eine, Viktor Brack, war ein "alter Kämpfer", der bereits 1923 zum Nationalsozialismus gestoßen war. 1932 hatte er die Parteiarbeit zu seinem Hauptberuf gemacht und einen Posten im "Braunen Haus", dem Hauptquartier der Nationalsozialisten in München, angenommen. Als sein Vorgesetzter, Reichsgeschäftsführer Philipp Bouhler, 1934 zum Chef der Kanzlei des Führers ernannt wurde, ging Brack mit ihm nach Berlin. Als Oberdienstleiter der Kanzlei des Führers avancierte Brack seit 1939 zu einem der Cheforganisatoren des "Euthanasie"-Programms. Ein Parteibonze also, machtgierig, intrigant und skrupellos, ein Schreibtischtäter, der weit über hunderttausend Menschen in den Tod schickte, ohne sich groß Gedanken darum zu machen. Der andere, Dr. Karl Brandt, verkörperte einen ganz anderen Tätertyp. Der junge Arzt, der 1928 - im Alter von nur 24 Jahren sein Medizinstudium mit der Promotion abschloß, wandte sich relativ spät erst dem Nationalsozialismus zu: 1932 wurde er Mitglied der NSDAP. Zu dieser Zeit arbeitete er als Stationsarzt am Bochumer Krankenhaus "Bergmannsheil". Durch seine Braut, Siegerin eines Schwimmwettkampfes, erhielt Brandt 1933 eine Einladung von Hitler auf den "Berghof". Als er bei einem Unfall Erste Hilfe leistete, lenkte der junge Arzt die Aufmerksamkeit Hitlers auf sich, der ihn zu seinem "Begleitarzt" ernannte. In dieser Eigenschaft leitete Brandt den ersten Patientenmord im Jahre 1939 in die Wege. Nachdem er - zusammen mit Philipp Bouhler - als Führerbevollmächtigter die oberste Leitung des "Euthanasie"-Programms übernomrnen hatte, machte er - ähnlich wie der Technokrat Albert Speer - eine späte, aber steile politische Karriere. Zuletzt hatte er als "Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesens" nur noch Hitler über sich und war damit den Obersten Reichsbehörden gleichgestellt. Brandt war intelligent, belesen, weltläufig und eloquent. Als Führerbevollmächtigter für die Patientemnorde war er kein blinder Befehlsempfänger, sondem ein Überzeugungstäter, der intensiv über sein Tun nachdachte. Stundenlang diskutierte er mit Pastor Fritz v. Bodelschwingh über das "Euthanasie"-Progranun - der Betheler Anstaltsleiter war von der persönlichen Integrität des jungen Arztes so überzeugt, daß er nach dem Todesurteil gegen Brandt ein Gnadengesuch einreichte. Brandt war einer jener engagierten Mediziner, die der Hybris der Medizin im Dritten Reich erlagen. In seinem Denken flossen Heilen und Vernichten zu einer sozialsanitären Utopie zusammen.
In den Personen der beiden Angeklagten Viktor Brack und Karl Brandt beleuchtete der Nümberger Ärzteprozeß schlaglichtartig die zwei Gesichter der "Euthanasie" im Nationalsozialismus. Überhaupt wurden durch den Prozeß die Tiefenstrukturen des Genozids erhellt, und die ersten Bücher und Artikel, die im unmittelbaren Umfeld des Prozesses entstanden, bewegten sich, wie wir in der Rückschau verblüfft feststellen, bereits auf einem erstaunlich hohen Reflexionsniveau. Ich nenne beispielhaft die beiden Arbeiten, die aus der Deutschen Ärztekommission hervorgegangen sind, die im Auftrag der Westdeutschen Ärztekammern den Prozeß beobachtete - die Dokumentation des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich und seines Mitarbeiters Fred Mielke "Das Diktat der Menschenverachtung" sowie die erste Gesamtdarstellung "Die Tötung Geisteskranker in Deutschland" von Alice Platen-Hallermund. Vieles von dem, was in diesen frühen Arbeiten bereits reflektiert wurde, geriet zwischenzeitlich in Vergessenheit und wurde erst in den 80er Jahren, als die Erforschung der NS-"Euthanasie" auf breiter Front einsetzte, gleichsam wiederentdeckt.
Die Patientemnorde in den Jahren von 1939 bis 1945, denen bis zu 300.000 psychisch Kranke und geistig Behinderte aus den Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich, aber auch in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion zum Opfer fielen, standen in einer dreifachen historischen Kontinuitätslinie.
Erstens stellten die Patientemorde die praktische Umsetzung jener Forderungen nach einer "Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" dar, die bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik erhoben worden waren.
Zweitens bildeten sie den Endpunkt nationalsozialistischer Erbgesundheitspolitik und standen damit in der Tradition der Eugenik, die sich in Deutschland seit den 1890er Jahren herausgebildet hatte und im "Dritten Reich" zur Staatsdoktrin erhoben wurde. Auch wenn dies jüngst bestritten worden ist, halte ich an meiner Sichtweise fest: Die Patientenmorde waren sozusagen die natürliche Verlängerung des NS-Sterilisationsprogramms.
Und drittens schließlich sind die Patientenmorde im Kontext der deutschen Psychiatriegeschichte zu sehen.

Lassen Sie mich mit einem kurzen begriffsgeschichtlichen Abriß beginnen. Das griechische Wort 'Euthanasia', das erstmals im 5. Jahrhundert v. Chr. belegt ist, bezeichnete im hellenistischen und römischen Sprachgebrauch entweder ein im Sinne der epikureischen Philosophie leichtes und schmerzloses Sterben oder aber einen nach den Maßstäben der stoischen Philosophie guten und ehrenvollen Tod. Mit dem Vordringen christlicher Todesvorstellungen verschwand er aus dem Wortschatz des mittelalterlichen Lateins. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde er dann von Francis Bacon wieder aufgegriffen und in einem völlig neuen Sinn verwandt - der Begriff 'Euthanasie' diente fortan zur Bezeichnung von ärztlichen Handlungen, die geeignet waren, Sterbenden den Todeskampf zu erleichtern. Erst um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert setzte sich die neue Wortbedeutung endgültig durch. Im 19. Jahrhundert bedeutete 'Euthanasie' also Sterbebegleitung ohne Lebensverkürzung, umfaßte u.a. pflegerische Maßnahmen wie die sachgemäße Lagerung, Körperpflege und Ernährung des Sterbenden und ärztliche Tätigkeiten wie das Verabreichen schmerzstillender Mittel. Der Gedanke der Sterbehilfe wurde ausdrücklich zurückgewiesen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitete sich das Bedeutungsfeld des Begriffs 'Euthanasie' so stark aus, daß es - was das Recht des Arztes über Leben und Tod anging - geradezu zu einer Umkehrung kam. Gegen Ende der 1920er Jahre war das Wort zu einem Synonym für schmerzlose Tötung geworden. Diese Verschiebung des Wortfeldes ist eine unmittelbare Folge der moralphilosophischen Diskussion um Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen und 'Vernichtung lebensunwerten Lebens'. Zwei Phasen der Diskussion lassen sich unterscheiden: die erste setzte in den 1890er Jahren ein und reichte bis in den Ersten Weltkrieg hinein; die zweite begann 1920 und dauerte bis in das 'Dritte Reich' fort.
Nicht zufällig ging der Gedanke der Sterbehilfe bei unheilbarer Krankheit von dem Zoologen Emst Haeckel aus. Haeckel, der in den 1860er/70er Jahren dem Darwisnismus in Deutschland zum Durchbruch verholfen hatte, bemühte sich in seinen - damals weit verbreiteten - populärwissenschaftlichen Schriften darum, eine Moralphilosophie auf der Grundlage der darwinistischen Biologie zu entwerfen, die er als 'naturalistischen Monismus' bezeichnete. Welche ethischen Implikationen hatte der Darwinismus? Die darwinistische Biologie habe, so Haeckel, gezeigt, daß es einen göttlichen Weltenschöpfer und -lenker nicht gebe. Der Monismus war daher streng materialistisch, atheistisch und antiklerikal. Christliche Vorstellungen von der Heiligkeit des Lebens lehnte Haeckel als religiöses Vorurteil scharf ab. Leben sei nur dann erhaltenswert, wenn es für seinen Träger einen Wert darstelle, und dieser 'Lebenswert' ergebe sich aus der Leistungs- und Genußfähigkeit. Unheilbares Leiden, dem von der monistischen Philosophie jeder Sinn abgesprochen wurde, mache ein Menschenleben 'lebensunwert'. Wenn keine Aussicht auf Besserung bestehe, so habe der leidende Mensch - so Haeckel und andere in seinem Gefolge - geradezu ein Recht auf den Tod und der Staat die Pflicht, ihm diesen Tod zu geben. Und weiter: Wo Leiden sinnlos würde, wäre Mit-Leiden fehl am Platze. Der Begriff des Mitleids wurde in sein Gegenteil verkehrt, so daß der Gedanke Raum gewann, aus Mitleid zu töten - und zwar auch ohne Einwilligung des Betroffenen. Hier kam eine andere ethische Implikation der darwinistischen Evolutionstheorie zum Tragen. Der Darwinismus habe nämlich so Haeckel - gezeigt, daß die Grenze zwischen Mensch und Tier fließend sei - dem Menschen sei daher kein besonderer ethischer Status einzuräumen. Ein schwer geisteskranker Mensch oder ein behindertes Neugeborenes seien deshalb genauso zu behandeln wie ein krankes Haustier. In diesen Gedankengängen - ebenso wie in dem ersten Entwurf zu einem Sterbehilfegesetz, der 1909 von seiten des Deutschen Monistenbundes zur Diskussion gestellt wurde - gingen also bereits Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen und 'Vernichtung lebensunwerten Lebens' nahtlos ineinander über.

Nach dem Ersten Weltkrieg spitzte sich die Diskussion weiter auf die 'Vernichtung lebensunwerten Lebens' zu. Schon in den Schriften zur Sterbehilfe, die vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlicht worden waren, war der Wert eines Menschenlebens nicht nur für den Einzelnen, sondern auch im Hinblick auf die Gesamtgesellschaft abgeschätzt worden. Dieser Gesichtspunkt trat nach dem Krieg völlig in den Vordergrund. Die ungeheuren Verluste an Menschenleben in den Schlachten des Ersten Weltkriegs und die Nachkriegsdepression stellten das Lebensrecht gerade der psychisch Kranken und geistig Behinderten in Frage.
Dies wird besonders deutlich in der richtungweisenden Schrift des Strafrechtlers Karl Bindung und des Psychiaters Alfred Hoche über "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" aus dem Jahre 1920. Der Weltkrieg hatte zu einer nachhaltigen Relativierung der Einzelexistenz geführt und ein - wie Hoche es nannte - "Atomgefühl" ausgelöst, die Empfmdung, daß der Einzelne nichts, der Staat oder das Volk hingegen alles sei. Daraus leiteten Binding und Hoche die Forderung ab, 3-4.000 volkswirtschaftlich nutzlose Anstaltspatienten zu töten, die als 'geistig Tote', als 'leere Menschenhülsen" anzusehen seien.
Volkswirtschaftliche Gesichtspunkte waren auch schon in der 'Euthanasie'-Diskussion vor dem Ersten Weltkrieg geltend gemacht worden. Angesichts der wirtschaftlichen Not der Nachkriegsjahre gewann dieses Argument jedoch stark an Gewicht.
Die Schrift von Bindung und Hoche löste in juristischen, medizinischen und theologischen Kreisen eine kontroverse Diskussion aus, die sich z.T. bis in die 30er Jahre hinzog. Dabei zeigte sich, daß die gesellschaftliche Akzeptanz der Sterbehilfe im Zunehmen begriffen war, während die Idee der 'Vernichtung lebensunwerten Lebens' noch weithin auf Ablehnung stieß. Es gab jedoch - auch in der Ärzteschaft - bereits in den 20er Jahren Stimmen, die sich für die Tötung schwer Geisteskranker und geistig Behinderter aussprachen, und zwar in einem Ausmaß, das weit über die Forderungen von Binding und Hoche hinausging. Dabei wurde der 'Euthanasie'-Gedanke bisweilen auch schon rassenhygienisch begründet.
Lassen Sie uns nun - nachdem wir die Genese der 'Euthanasie'-Idee vom Beginn der 1890er bis zum Ende der 1920er Jahre verfolgt haben - noch einmal in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurückkehren, um die geschichtlichen Wurzeln der Rassenhygiene freizulegen. Sie ging in den 1890er Jahren aus dem älteren Sozialdarwinismus hervor und bildete das deutsche Gegenstück zu der in Großbritannien schon in den 1860er/70er Jahren entstandenen Eugenik. Ihrem Selbstverständnis nach war die Rassenhygiene eine Wissenschaft - nämlich eine Gesellschaftswissenschaft auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, die Einflüsse sozialer Strukturen und Prozesse auf die biologische Evolution des Menschen zu untersuchen. Unter dem Gesichtspunkt des darwinistischen Selektionsprinzips mußte den Rassenhygienikern der moderne Zivilisationsprozeß als eine einzige 'Kette von Pyrrhussiegen' erscheinen. Indem etwa die moderne Medizin immer mehr Menschen am Leben erhalte, die an erblichen Krankheiten litten - so argumentierten die Rassenhygieniker ennögliche sie es ihnen, sich immer zahlreicher fortzupflanzen - auf diese Weise aber trage die moderne Medizin gegen ihren Willen zur Ausbreitung erblicher Krankheiten bei. Schon Darwin selber und die frühen Sozialdarwinisten hatten diese Problematik gesehen. Sie entwarfen jedoch noch kein rassenhygienisches Programm, um den 'contraselektorischen' Effekten des Zivilisationsprozesses entgegenzuwirken. Zu stark war ihr Glaube an die Selbstheilungskräfte der Natur. Dies hatte im wesentlichen zwei Gründe. Zum einen spiegelte der frühe Sozialdarwinismus die zukunftsoptimistischen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorien des Liberalismus wider, und solange die liberale Theorie en vogue war, galt ihnen der Fortschritt geradezu als Naturgesetz. Zum anderen gingen die frühen Sozialdarwinisten noch von der Vererbungslehre Lamarcks aus, derzufolge eine Vererbung erworbener Eigenschaften möglich ist. Deshalb meinten sie, daß Medizin, Individualhygiene, Sport, Schulbildung usw. die genetische Substanz der menschlichen Spezies positiv beeinflussen könnten.

Als in der 'Großen Depression' der 1870er/1880er Jahre der Liberalismus in die Krise geriet und sich gleichzeitig - vor allem mit der Formulierung der Keimplasmatheorie durch August Weismann im Jahre 1885 - in der Biologie 'harte' Vererbungstheorien durchsetzten, bildete sich die Rassenhygiene heraus. Auch die Rassenhygiene setzte die Naturgesetzlichkeit des Gesellschaftsgeschehens voraus, aber sie hielt - im Gegensatz zu den frühen Sozialdarwinisten - ein Abweichen der biologischen Evolution des Menschen von dem durch die Natur vorgegebenen Entwicklungspfad für möglich. Die genetische Degeneration, die angeblich durch die 'contraselektorischen' Effekte des Zivilisationsprozesses ausgelöst wurde, erschien ihnen daher als eine ernsthafte Gefahr, die innerhalb weniger Generationen in eine biologische Katastrophe umzuschlagen drohte, wenn nicht energisch gegengesteuert werde. Eine solche Gegensteuerung war nach Ansicht der Rassenhygieniker nur möglich durch gelenkte Selelctionsprozesse, die - über die Abwendung der vermeintlich drohenden 'Entartungsgefahr' hinaus - die menschliche Evolution beschleunigt vorantreiben würden. Dieses Ineinandergreifen von Entartungsvorstellungen und Züchtungsutopien ließ radikale Eingriffe in die gesellschaftlichen Auslese- und Ausmerzeprozesse zwingend geboten erscheinen. Dabei hatte das Einzelinteresse - so forderten die Rassenhygieniker - zurückzustehen hinter den Bedürfiüssen der Gesamtgesellschaft, die als ein lebender Organismus höherer Ordnung begriffen wurde.
Die Rassenhygiene verstand sich also von Anfang an als eine angewandte Wissenschaft, die sich zur Aufgabe gesetzt hatte, ein Instrumentarium zur Steuerung der menschlichen Evolution zu entwickeln. Zum einen forderte sie, in die 'Fortpflanzungsauslese' einzugreifen, indem man erbkranke, behinderte und sozial unangepaßte Menschen sterilisierte. Zum anderen diskutierten einige renommierte Rassenhygieniker auch schon Eingriffe in die 'Lebensauslese', vor allem die Tötung behinderter Neugeborener. Hier erfolgte der Brückenschlag zur 'Euthanasie'-Diskussion.
Allerdings ist einschränkend hinzuzufügen, daß die meisten Rassenhygieniker der 'Euthanasie' nur einen geringen eugenischen Effekt zubilligten, da die meisten der in Frage kommenden Menschen ohnehin fortpflanzungsunfähig seien, und angesichts der zu erwartenden gesellschaftlichen Widerstände im Kaiserreich und in der Weimarer Republik verzichteten sie darauf, die 'Euthanasie' in ihren Forderungskatalog aufzunehmen. Unter den veränderten Rahmenbedingungen des 'Dritten Reiches' jedoch wurden die Rassenhygieniker - neben den Psychiatern - zu den treibenden Kräften der "Euthanasie".
Zur engeren Vorgeschichte der "Euthanasie", gehört schließlich auch die Entwicklung der deutschen Anstaltspsychiatrie in den ersten Jahren des "Dritten Reiches". Schon gegen Ende der 20er Jahre hatte sich in den deutschen Heil- und Pflegeanstalten eine Überfdllungskrise angebahnt, die sich mit der Überwindung der Weltwirtschaftskrise weiter zuspitzte. 1933 war die Patientenzahl bereits wieder im Steigen begriffen. Während der ersten sechs Jahre des ,Dritten Reiches' wuchs sie auf fast 350.000 an. Niemals zuvor waren in Deutschland so viele Menschen in Anstaltsbehandlung gewesen. Während die Patientenzahl um gut 80.000 zunahm, wurde die Bettenzahl nur um gut 30.000 erhöht. Hinzu kam, daß die durchschnittliche Verweildauer unverändert hoch blieb. All das zusammengenommen, kann festgehalten werden, daß sich das Problem der Überbelegung in den 30er Jahren dringender denn je stellte. Auch die zahlreichen Zwangssterilisationen änderten daran nichts. Zwar wurden etwa 25% aller Anstaltspatienten sterilisiert - die erhoffte Entlassungswelle blieb aber aus, im Gegenteil: Entlassungen und Beurlaubungen wurden infolge der Sterilisierungsgesetzgebung eher erschwert.

Welche Ursachen hatte der Anstieg der Patientenzahl nach 1933? Zum einen hing er von dem langsam wiedereinsetzenden Wirtschaftsaufschwung ab: Mit der Abnahme des offen zutage tretenden Massenelends in den Großstädten wurden die Grenzen, in denen abweichendes Verhalten geduldet wurde, wieder enger gezogen; auch schränkte der Übergang zur Vollbeschäftigung ab 1936 die Möglichkeiten der häuslichen Pflege ein. Insoweit beruhte der Anstieg der Patientenzahl ab 1933 auf denselben sozialen Mechanismen wie schon in der Konsolidierungsphase der Weimarer Republik in den Jahren von 1924 bis 1929. Dennoch vollzog sich 1933 ein qualitativer Sprung, denn der Normdruck stieg weit über das bis dahin bekannte Maß hinaus an. Dies war auf den totalitären Charakter des NS-Regimes zurückzuführen, das ein engmaschiges Netz sozialer Kontrolle knüpfte, durch das Menschen mit psychischen Krankheiten und geistigen Behinderungen kaum noch hindurchschlüpfen konnten. Dem entsprach, daß die Behörden ihre Einweisungskompetenz immer rigoroser nutzten - immer mehr Menschen wurden auf Antrag von Behörden und Kliniken in psychiatrische Anstalten eingewiesen, immer weniger auf Antrag ihrer Familie. Die Aufnahmehürden wurden herabgesetzt, die Entlassungshürden angehoben - aus diesem repressiven Gesellschaftsklima erklärt sich auch, daß es nicht zu Massenentlassungen sterilisierter Anstaltspatienten kam.
Die Zunahme der Patientenzahl verursachte natürlich höhere Kosten. Paradoxerweise wurde in den Anfangsjahren des 'Dritten Reiches' mehr Geld f'ür die Heil- und Pflegeanstalten ausgegeben als am Ende der Weimarer Republik, obwohl das NS-Regime mit dem Anspruch angetreten war, die Kosten gerade in diesem Fürsorgebereich zu senken.
Hier zeichnete sich ein Zielkonflikt in der nationalsozialistischen Politik gegenüber der Anstaltspsychiatrie ab: Einerseits dienten die Anstalten als Instrument der Segregation. Dies hatte zwangsläufig eine Expansion der Anstaltspsychiatrie zur Folge. Andrerseits verfolgte das NS-Regime ein neuartiges Fürsorgekonzept, das auf eine Umverteilung der Lasten von der Fürsorge zur Vorsorge, von den Kranken und Behinderten hin zu den Gesunden abzielte und das eine Kürzung der Mittel für das Anstaltswesen vorsah.
Wollte man den Kostenanstieg im Anstaltswesen trotz steigender Patientenzahlen niedrig halten, so mußte man die Pflegesätze für den einzelnen Patienten herabsetzen. Bereits in der Weltwirtschaftskrise waren die Fürsorgeverbände unter dem Druck knapper finanzieller Ressourcen dazu übergegangen, die Pflegesätze zu kürzen. 1933 wurde diese Politik forciert. Dadurch wurden die Anstalten allmählich unter die Rentabilitätsgrenze gedrückt und durch eine restriktive Zuschußpolitik dazu gezwungen, in allen Ausgabenbereichen - an Essen, Kleidung, Heizung, Arzneimitteln usw. - drastisch zu sparen. Allmählich wurden die Pflegesätze bis unter das Existenzminimum gesenkt. Infolge der Mangelemährung stieg die Sterberate in den deutschen Heil- und Pflegeanstalten deutlich an. "Schon vor 1940 wurde den schwächsten, unruhigsten, ältesten und pflegebedürftigsten Menschen in den Anstalten die Lebensgrundlage entzogen. Aber auch für die übrigen blieb nur noch eine schmale Existenzgrundlage."
Zwischenfazit: Die deutsche Anstaltspsychiatrie befand sich am Vorabend des Zweiten Weltkrieges in einer tiefen Krise, die zu einer dramatischen Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Anstalten führte. Dies ist - wie wir noch sehen werden - der Hintergrund für die Verstrickung vieler, gerade junger, engagierter und reformorientierter Anstaltspsychiater in die "Euthanasie". Aber wie kam es nun ganz konkret zu dieser Verstrickung? Nun, die Wurzeln der "Euthanasie" liegen in der Sterilisierungsgesetzgebung. Um die praktische Durchführung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" kam es seit 1934 immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen der parteiamtlichen 'Gesundheitsführung' und den staatlichen Gesundheitsbehörden. Deshalb wurde als übergeordnete Schiedsstelle um die Jahreswende 1937/38 ein sog. Reichsausschuß für Erbgesundheitsfragen gebildet. Zu seinem Aufgabenbereich gehörten Entscheidungen über strittige Erbgesundheitsgerichtsurteile, Eheverbote und Ehestandsdarlehensbescheide sowie die Genehmigung von Abtreibungen aus ethischer und eugenischer Indikation. Um diese Aufgaben wahrnehmen zu können, umgab sich der Reichsausschuß mit einem Kreis von Gutachtern, zu denen renommierte Psychiater, Neurologen, Gynäkologen und Pädiater zählten. Über die Funktion als oberste Schiedsstelle in Fragen der 'Erbpflege' hinaus verstand sich dieses Gremium als eine zentrale Planungsinstanz auf dem Gebiet der Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik, weshalb es sich bald umbenannte; fortab hieß es Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden. Als bürokratischer Apparat des Reichsausschusses fungierte die Unterabteilung Erb- und Rassenpflege des Reichsinnennunisteriums (RMdl) unter Ministerialrat Dr. Herbert Linden. Die politische Leitung des Reichsausschusses lag dagegen bei der Kanzlei des Führers unter Reichsleiter Philipp Bouhler. Es handelte sich hier also um einen Machtapparat, der eine führerunmittelbare Parteidienststelle, Teile der alten Ministerialbürokratie und einen Expertenstab umfaßte. Von diesem Machtapparat ging der entscheidende Anstoß zur 'Euthanasie'-Aktion aus.

Schon auf dem Reichsparteitag von 1935 hatte Reichsärzteführer Gerhard Wagner versucht, eine 'Führerentscheidung' zur 'Vernichtung lebensunwerten Lebens' herbeitzuführen. Damals erschien Hitler jedoch "vorsichtiges Abwarten ratsam". Im Kriegsfall, entschied Hitler, werde er die 'Euthanasie'-Frage aufgreifen. Damit war die 'Euthanasie'-Aktion aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Nach der Gründung des Reichsausschusses wurde sie in diesem Gremium eingehend erörtert.
Um die Jahreswende 1938/39 entschloß man sich, einen erneuten Vorstoß bei Hitler zu unternehmen. Pro£ Wemer Catel, Direktor der Leipziger Universitätskinderklinik und Gutachter des Reichsausschusses, veranlaßte die Eltern eines schwerstbehinderten Kleinkindes, ein Gesuch an Hitler zu richten, um die nach geltendem Recht strafbare Tötung ihres Kindes zu erwirken. Hitler, dem die Eingabe von der Kanzlei des Führers vorgelegt wurde, beauftragte seinen Begleitarzt Brandt, mit der Untersuchung des Falles. Brandt veranlaßte daraufhin die Tötung des Kindes.
Als Folge dieses Falles kam es zu einer mündlichen Ernächtigung Brandts und Bouhlers durch Hitler, in ähnlichen Fällen ebenso zu verfahren. Das bedeutete den Übergang von der Tötung ungeborenen Lebens, die 1935 mit der Freigabe der Abtreibung aus eugenischer Indikation legalisiert worden war, zur Ermordung von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen, der Kinder-,Euthanasie'. Zentrale Planungs- und Leitungsinstanz war der Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden, unterstützt von der Kanzlei des Führers und der Abteilung Erb- und Rassenpflege im RMdl.

Da bei der Kinder-,Euthanasie' diejenigen behinderten Kinder getötet werden sollten, die nicht in Anstaltspflege lebten, war der Reichsausschuß bei der Erfassung der Mordopfer auf die Mitarbeit der staatlichen Gesundheitsämter angewiesen. In einem streng vertraulichen Erlaß des RMdl vom (18.) August 1939 wurde eine Meldepflicht für Neugeborene und Kleinkinder bis zu drei Jahren eingeführt, die an Idiotie, Mongolismus, Mißbildungen oder Lähmungen litten. Die Meldungen waren an die örtlichen Amtsärzte zu richten, die sie an eine Tarnadresse des Reichsausschusses weiterleiteten. Einzig und allein auf der Grundlage dieser Meldebögen entschieden die Gutachter des Reichsausschusses über Leben und Tod der Kinder. Die zur Ermordung freigegebenen Kinder wurden in eine der sog. 'Kinderfachabteilungen' eingewiesen, die in über 30 Heil- und Pflegeanstalten eingerichtet wurden, deren Leiter mit dem Reichsausschuß zusammenarbeiteten, u.a. in der Berliner Städtischen Nervenklinik für Kinder und Jugendliche, bekannt als "Wiesengrund", und in der privaten Kinderklinik von Dr. Emst Wentzler in der Zeltinger Straße in Frohnau. Die Eltern ließ man gemeinhin über den eigentlichen Zweck der Verlegungen im unklaren und erschlich sich ihre Zustimmung durch grobe Täuschung.
Die Amtsärzte waren zunächst angewiesen, von Zwangsmaßnahmen abzusehen. Seit September 1941 aber durften sie Eltern, die sich der Verlegung ihrer Kinder widersetzten, mit dem Entzug des Sorgerechts drohen. Um insbesondere alleinstehende Mütter zur Einwilligung in die Behandlung zu zwingen, setzte sich der Reichsausschuß mit den örtlichen Arbeitsätntem in Verbindung, um durch den Arbeitseinsatz der Mütter die Einweisung der Kinder zu erzwingen.
Ein Teil der Kinder, die in die Kinderfachabteilungen' eingewiesen wurden, war unmittelbar zur Tötung bestimmt, die übrigen wurden - übrigens mit Hilfe der modernsten diagnostischen Methoden - untersucht. War der Tod eines Kindes beschlossene Sache, setzte eine bestialische Prozedur ein. Immer wieder verabreichte man den Kindern Überdosen Luminal, manchmal kombiniert mit Morphiuin-Skopolamin-Injektionen. Diese Medikamentengaben waren nicht unmittelbar tödlich, sie führten zu einem langsamen Siechtum, das schließlich mit dem Tod der völlig entkräfteten Kinder endete. Dieses Verfahren diente dazu, einen natürlichen Krankheitsverlauf vorzutäuschen. Noch brutaler ging man z.B. in den bayerischen 'Kinderfachabteilungen' vor, wo man die zum Tode bestimmten Kinder einfach verhungern ließ. Die Zahl der Kinder, die auf diese Weise ums Leben kam, wird auf mindestens 5.000 geschätzt.
Im Juli 1939 wurde beschlossen, die Vemichtung 'lebensunwerten Lebens' auf erwachsene Anstaltspatienten auszudehnen. Hitler betraute zunächst Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti mit der Durchführung der Erwachsenen-,Euthanasie', doch gelang es der Kanzlei des Führers, eine Rücknahrne des Befehls zu erwirken, so daß der Auftrag den beiden Bevollmächtigten für die Kinder-,Euthanasie', Brandt und Bouhler, übertragen wurde. Ein Gesetz als Grundlage der Euthanasie'-Aktion lehnte Hitler bereits in den Vorbesprechungen ausdrücklich ab, er fand sich jedoch bereit, eine 'Führerermächtigung' auszustellen, die - im Oktober 1939 unterzeichnet - auf den 1. September, den Tag des Kriegsausbruchs, zurückdatiert wurde. Sie lautete:
"Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann."
Dieses Schreiben blieb die einzige Rechtsgrundlage der 'Euthanasie'-Aktion. Es entsprach noch nicht einmal der Form, die zu dieser Zeit für geheime 'Führerbefehle' üblich war. Auf privatem Briefpapier geschrieben, ohne Bezeichnung der staatsrechtlichen Stellung Hitlers und nicht von den zuständigen Fachministem gegengezeichnet, wurde es unter Verschluß gehalten und nur einem eng begrenzten Kreis von Mittätern und Mitwissern zugänglich gemacht. Da der Entwurf zu einem 'Gesetz über die Sterbehilfe bei unheilbar Kranken', den die ,Euthanasie'-Planer selber ausarbeiteten, im Herbst 1940 von Hitler endgültig verworfen wurde, blieb die Vemichtung 'lebensunwerten Lebens' bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches' strafbar. Die Justiz schritt jedoch - von einzelnen mutigen Richtern abgesehen - nicht ein. Im Gegenteil: Nachdem die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte im April 1941 von der laufenden Vemichtungsaktion offiziell in Kenntnis gesetzt worden waren, verpflichteten sie sich, alle im Zusammenhang mit der 'Euthanasie'-Aktion stehenden Verfahren niederzuschlagen, obwohl eigentlich Ermittlungszwang bestand, da in mehreren Fällen Anzeige wegen Mordes erstattet worden war. Daran wird deutlich, daß sich die 'Euthanasie'Aktion in einem der rechtlosen Hohlräume abspielte, die für den 'halbierten Rechtsstaat' des nationalsozialistischen Deutschland typisch war.

Die Illegalität der Aktion verpflichtete die Verantwortlichen zur Geheimhaltung. Weil die Kanzlei des Führers und das RMdl nach außen hin nicht in Erscheinung treten durften, gründete man unter der Bezeichnung Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten' eine Tarnorganisation, die für die Verschickung und Auswertung von Fragebögen zur Erfassung der Mordopfer zuständig war. Für den Transport der Opfer wurde eine weitere Tamorgaiüsation gegründet, die 'Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft' (GEKRAT). Der finanziellen Abwicklung der Euthanasie'-Aktion diente eine dritte Tamorganisation, die ,Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege'. Im April 1941, als die Abrechnung der Pflegegelder mit den Kostenträgem vereinheitlicht wurde, rief man eine vierte Tamorganisation ins Leben, die Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten'. Hinter diesen Tamorganisationen verbarg sich ein bürokratischer Apparat, der etwa 100 Personen umfaßte. Diese ,Euthanasie'-Zentraldienststelle war ursprünglich in den Räumen der Kanzlei des Führers untergebracht. Im April 1940 wurde dann der größte Teil der Verwaltung in eine Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4 verlegt. Nach dieser Adresse wurde die Erwachsenen-,Euthanasie' im internen Sprachgebrauch als 'Aktion T4' bezeichnet.
Als ärztliche Leiter der Euthanasie'- Aktion konnten Prof. Werner Heyde, Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Würzburg, und Prof. Hennann Paul Nitsche, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirna, gewonnen werden. Mindestens 50 Ärzte waren bis zum August 194 1, als die 'Aktion T4' offiziell abgestoppt wurde, unmittelbar im 'Euthanasie' Apparat tätig, darunter eine Reihe von Ordinarien für Psychiatrie und Neurologie. Alle diese Ärzte - dies muß deutlich hervorgehoben werden - arbeiteten freiwillig mit. Zwang scheint auch gar nicht nötig gewesen zu sein. "Namhafte Persönlichkeiten (gaben ihre) Einwilligung bedenkenlos", heißt es in der Aussage von Dr. Friedrich Mennecke, "es herrschte insbesondere bei den jüngeren Kollegen eine wie von einem Missionsgedanken getragene Begeisterung."
Wie erklärt sich diese Begeisterung? Warum gaben sich Ärzte dazu her, Henkersdienste zu leisten? Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, nochmals einen Blick auf die Situation der Psychiatrie zu werfen. In den 20er/30er Jahren gab es in der psychiatrischen Therapeutik einen starken Entwicklungsschub. Durch die Einführung neuartiger Therapiemethoden, namentlich der Arbeits-, Insulin-, Cardiazol- und Elektroschocktherapie, schienen überraschende Heilerfolge erzielt worden zu sein. Man war zuversichtlich, die Grenzen zwischen heilbarer und unheilbarer Geisteskrankheit in absehbarer Zeit entscheidend verschieben zu können. Allenthalben herrschte Aufbruchstimmung. Auf der anderen Seite waren die Anstalten, wie wir gesehen haben, hoffnungslos überfüllt. Gleichzeitig nahm der Anteil der Langzeitpatienten zu. Die Pflegesätze wurden gesenkt. Die Bettenkapazität stagnierte. Dies alles zusammengenommen warf eine furchtbare Frage auf: Wenn die Möglichkeiten der Anstaltspsychiatrie kaum ausreichten, um den psychisch Kranken, die man heilen zu können glaubte, wirksam Hilfe zu leisten, war es dann eigentlich zu verantworten, daß Arbeitskraft und Anstaltsraum verschwendet wurden, um unheilbar Kranke und dauernd Behinderte zu verwahren? Die 'Euthanasie'-Psychiater, die überwiegend zu den Befürwortem der innovativen Therapieformen gehörten, waren davon überzeugt, daß die Verwahrung der Unheilbaren auf Kosten der Behandlung der Heilbaren ging. Durch die Beseitigung der chronisch Kranken und Behinderten wollten sie den Weg zu einer ambitionierten Psychiatrierefonn freimachen. Die Heilanstalt der Zukunft, wie sie sie sich vorstellten, war ein räumlich großzügig angelegtes, mit modernsten Apparaten ausgestattetes, mit geschultem Pflegepersonal besetztes, von hochqualifizierten Psychiatern geleitetes Therapiezentrum. Die unheilbaren Patienten störten dabei nur, sie sollten in "Absterbeanstalten" abgeschoben werden.
Der Nümberger Ärzteprozeß hat das hohe Maß an Enthusiasmus und Eigeninitiative bei den Eu-Ärzten deutlich herausgearbeitet. Ihre im therapeutischen Idealismus wurzelnden Motive blieben allerdings weitgehend im Dunkeln. Der Prozeß war einer juristischen Sichtweise verpflichtet - es ging primär um Schuld und Verantwortung, die Frage nach den Motiven war sekundär. Von daher erklärt es sich, daß hochinteressantes Material aus dem Nachlaß des ärztlichen Leiters der Eu-Aktion, Hermann Paul Nitsche, das zur Vorbereitung des Verfahrens herangezogen worden war, im Prozeß selber keine Rolle mehr spielte. Dieses Material, das an das amerikanische Hauptquartier in Heidelberg weitergeleitet wurde und deshalb als die "Heidelberger Dokumente" bekanntgeworden ist, umfaßte Briefwechsel und Denkschriften der Eu.-Ärzte, in denen die medizinischen Motive des Genozids deutlich zum Ausdruck kamen. Indem er diesen Aspekt der Täterpsychologie weitgehend ausklammerte, legte der Nümberger Ärzteprozeß eine Deutung nahe, die von einer Dopplung der medizinischen Täter ausgeht, von der Herausbildung zweier verschiedener Persönlichkeiten, einem Heiler-Selbst und einem Mörder-Selbst, die sich zu einer Dr. Jekyll-und-Mr.Hyde-Persönlichkeit ergänzten.

Diese Deutung, die vor ein paar Jahren von Robert J. Lifton auf den Punkt gebracht worden ist, übersieht freilich, daß bei den Eu.-Ärzten das Vernichten zum integralen Bestandteil des Heilens geworden war - von einer Spaltung oder Dopplung ihrer Persönlichkeit kann - im Unterschied zu anderen NS-Tätertypen - überhaupt keine Rede sein.
Zurück zu den Vorbereitungen zur 'Aktion T4'. Auf Anraten eines Experten des Reichskriminalpolizeiamtes entschied sich die 'Euthanasie'-Zentrale in der Frage der Todesart für die Vergasung nüt Kohlenmonoxyd, da eine Ermordung durch Injektionen bei einer geschätzten Anzahl von 60.000 bis 70.000 Opfern nicht durchführbar erschien. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, einzelne Anstalten als Tötungsstätten mit Vergasungsanlagen auszustatten. Im Verlauf der 'Aktion T4' wurden sechs Einrichtungen beschlagnahmt und mit Gaskammem und Krematorien ausgerüstet:
- Schloß Grafeneck in Württemberg,
- das ehemalige Zuchthaus Brandenburg an der Havel,
- Schloß Hartheim bei Linz,
- die Heil- und Pflegeanstalten Sonnenstein bei Pima,
-Bemburg an der Saale in Sachsen-Anhalt
- und Hadamar bei Limburg.
Die Erfassung der Anstaltspatienten begann mit einem Runderlaß des RMdl (am 9.) im Oktober 1939. Den Anstalten wurden Vordrucke eines Meldebogens zugestellt, der für bestimmte Patientenkategorien auszufallen war. Der Meldebogen offenbart die Selektionskriterien der 'Euthanasie'-Planer. Es war beabsichtigt, aus der Gruppe der 'erblich belasteten' psychisch Kranken und geistig Behinderten in Anstaltspflege, insbesondere der Schizophrenen, ,Geistesschwachen' und Epileptiker, diejenige Teilgruppe auszusondern, deren Arbeitskraft zumindest eingeschränkt war und die deshalb - weil die 'Euthanasie'-Psychiater der Arbeitstherapie größtes Gewicht beimaßen - als nicht therapiefähig galten. Hinzu kamen diejenigen Teilgruppen der Anstaltsbevölkerung, die als rassisch minderwertig, kriminell oder 'asozial' galten, während aus Gründen politischer Opportunität die Gruppen der Kriegsversehrten, Alterserkrankten und Ausländer zunächst ausgeklammert wurden.
Die ausgefüllten Meldebögen gelangten über das RMdl zurück in die Berliner ,Euthanasie'-Zentrale, wo sie von ärztlichen Gutachtem' und Obergutachtem' im Schnellverfahren ausgewertet wurden. Mit einem Federstrich entschieden die insgesamt 42 Gutachter - Bert Honolka hat sie treffend als "Kreuzelschreiber" charakterisiert - über Leben und Tod tausender Kranker und Behinderter. Die Namen der selektierten Patienten wurden auf die Verlegungslisten der GEKRAT gesetzt. Viele Patienten wußten, was ihnen bevorstand. Sie lebten über Wochen, Monate und Jahre in angstvoller Erwartung der grauen Omnibusse.
Von den Transportstaffeln der GEKRAT verschleppt, gelangten die Opfer - seit 1940 auf dem Umweg über sog. Zwischenanstalten' - an die Tötungsstätten, wo sie nach oberflächlicher Untersuchung einen qualvollen Tod starben. Der Todeskampf der erstickenden Opfer dauerte bis zu zwanzig Minuten. Die Hinrichtung war - in Übereinstimmung mit dem Ermächtigungsschreiben Hitlers - ausdrücklich dem leitenden Arzt der Tötungsanstalt vorbehalten. Die Leichen wurden, nachdem man ihnen die Goldzähne herausgebrochen hatte, auf Spezialbahren in die Verbrennungsöfen befördert und verbrannt. Die Asche sammelte man in Umen, um sie den Angehörigen schicken zu können. Die Ärzte trugen eine unverfängliche Todesursache in die Krankenblätter ein, sog. Trostbriefabteilungen' benachrichtigten die Familien der Toten, 'Sonderstandesämter' stellten gefälschte Sterbeurkunden aus.
Zwischen Januar 1940 und August 1941 kamen auf diese Weise exakt 70.273 psychisch Kranke und geistig Behinderte in den Gaskammem der 'Aktion T4' ums Leben.
Obwohl die 'Euthanasie'-Aktion von Anfang an als 'geheime Reichssache' behandelt wurde, ließ sich die Ermordung von Zehntausenden psychisch Kranken und geistig Behinderten auf Dauer nicht geheimhalten. Wieviel wußte die deutsche Bevölkerung? Hier wird man nach Zeit, Ort und Bevölkerungsgruppe differenzieren müssen. Bis etwa Mitte 1940 war in der Öffentlichkeit so gut wie nichts über die anlaufenden Vernichtungsaktionen bekannt. Auf dem Höhepunkt der Massenvergasungen zwischen Mitte 1940 und Mitte 1941 dürfte die Tatsache der Krankentötung hingegen allgemein bekannt gewesen sein - nicht zuletzt aufgrtmd der unter der Hand kursierenden Protestschreiben kirchlicher Amtsträger und der Berichterstattung ausländischer Rundfunksender. Die nach dem August 1941 insgeheim fortgeführten Krankentötungen blieben der Öffentlichkeit dann wieder weitgehend verborgen. Auch war der Kenntnisstand der Bevölkerung von Region zu Region verschieden. In den ländlichen Gebieten rund um die Anstalten wußten die Menschen aus eigener Beobachtung sehr genau über die Vernichtung Bescheid. In den großstädtischen Ballungsräumen weitab von den entlegenen Heil- und Pflegeanstalten waren sie dagegen auf die umlaufenden Gerüchte angewiesen, zumal die betroffenen Familien in der städtischen Lebensumwelt - im Gegensatz zu den ländlichen Verhältnissen - im Verborgenen blieben. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß Menschen, die von Berufs wegen mit der 'Euthanasie' konfrontiert wurden, z.B. Ärzte, Krankenschwestem und -pfleger, Geistliche, Angestellte und Beamte in den Gemeindeverwaltungen, bei den Polizeibehörden, bei der Reichsbahn oder in der Sozialversicherung, in der Regel besser informiert waren als der Durchschnitt der Bevölkerung. Allgemein wird man aber sagen können, daß die Masse der Bevölkerung genug wußte, um nicht mehr wissen zu wollen.
Diese Feststellung leitet zu der Frage über, wie die Bevölkerung zu den Vemichtungsaktionen gegen psychisch Kranke und geistig Behinderte stand. Die große Mehrheit verhielt sich - wie nicht anders zu erwarten - indifferent. Ein Teil der Bevölkerung, auch der Angehörigen von Kranken und Behinderten, sprach sich offen für eine Vemichtung lebensunwerten Lebens' aus. Dieser Befund überrascht nicht. Überraschen muß vielmehr das recht hohe Maß an Verweigerung.
Vor allem Menschen in Helferberufen setzten sich für die ihnen anvertrauten Kranken und Behinderten ein. Verfälschung der Fragebögen, Hinhalten der Behörden, Benachrichtigung der Angehörigen, vorzeitige Entlassung oder Verlegung, Einsprüche gegen Verlegungsbefehle, Zurückstellung einzelner Kranker von den Transporten, Verstecken von Anstaltspfleglingen, Beihilfe zur Flucht - gerade ihres konspirativen Charakters wegen war die ,Euthanasie'-Aktion auf die Mithilfe der Anstalten angewiesen, so daß sich zahlreiche Möglichkeiten zu widersetzlichem Handeln ergaben. Allerdings waren solche Formen der partiellen Resistenz stets auch mit einem gewissen Maß an Kollaboration verbunden.
Auch auf Seiten der Angehörigen war die Bereitschaft zur Hilfeleistung durchaus vorhanden. Viele von ihnen nahmen ihre kranken Familienmitglieder zu sich, wenn sie von den Anstaltsleitungen über die drohende Verlegung unterrichtet wurden. Die Zahl der Aufnahmen in Heil- und Pflegeanstalten ging vorübergehend deutlich zurück. Häufig beschwerten sich die Angehörigen auch über die ohne ihr Wissen durchgenommen Verlegungen und versuchten, die Spur der Verlegten zu verfolgen. Da die Todesnachrichten mit zunehmendem Mißtrauen aufgenommen wurden, mußten die Ärzte in den Tötungsanstalten immer mehr argwöhnische Rückfragen beantworten. Eine Form, die Öffentlichkeit auf das Schicksal der ermordeten Anstaltspatienten aufmerksam zu machen, waren Todesanzeigen, in denen auf die Umstände des Sterbefalls hingewiesen wurde.
Aber auch über den Kreis der betroffenen Familien hinaus wurde Widerspruch laut. Im Zuge der Verlegungen kam es - im Gegensatz zu den kurze Zeit später einsetzenden Judendeportationen - wiederholt zu spontanen Mißfallenskundgebungen vor den Anstaltstoren. Diese Abwehrhaltung ging über konfessionell gebundene Bevölkerungsgruppen hinaus bis in die unteren Parteigliederungen hinein. Selten haben die psychisch Kranken und geistig Behinderten so starken Rückhalt in der Bevölkerung gefunden wie zur Zeit der nationalsozialistischen,Euthanasie'-Aktion.
Dieser Solidarisierungseffekt überrascht umso mehr, als man annehmen kann, daß die jahrelange rassenhygienische Propaganda des NS-Regimes die stets vorhandenen latenten Ressentiments gegen Psychiatriepatienten verstärkt haben dürfte. Die "Euthanasie"-Zentrale hatte - nebenbei bemerkt - eine eigene Abteilung für Filmpropaganda. Ihr größter Erfolg war der 1941 uraufgeführte Spielfilm "Ich klage an". Der Film behandelt - die verschiedenen Bedeutungsebenen des "Euthanasie"-Begriffs bewußt überschreitend, das Problem der Sterbehilfe und soll unterschwellig für die Krankenmorde werben. In der geheimen Presseanweisung heißt es, daß bei Filmbesprechungen der Ausdruck "Euthanasie" keineswegs zu gebrauchen sei. Der Film wurde ein Kassenschlager. Jedoch: Wenn auch der Gedanke der Vernichtung 'lebensunwerten Lebens' in der Wertehierarchie der Zeitgenossen einen hohen Rang einnahm, so blieb er doch anderen Wertsetzungen deutlich untergeordnet. Die grundsätzliche Zustimmung zur Lebensvernichtung wurde oftmals durch das Unbehagen gegenüber der Gesetzlosigkeit, Geheimhaltung und Regellosigkeit des Verfahrens oder den Vorbehalt gegenüber der Einbeziehung von Alterserkrankten, Kriegsversehrten und Arbeitsinvaliden überlagert. In diesem Zusammenhang spielt eine Rolle, daß die Grenzen zwischen 'lebenswertem' und lebensunwertem' Leben durchlässig waren, wodurch in der Bevölkerung ein Klima der Bedrohung entstand, das zum Widerspruch herausforderte.
Allgemein überschätzt wird der Widerstand, den die Kirchen der 'Euthanasie'-Aktion entgegensetzten. Die zahlreichen vertraulichen Eingaben kirchlicher Würdenträger an die nationalsozialistische Regierung zeugen zwar von persönlicher Integrität, blieben aber völlig wirkungslos. So wurden beispielsweise die Protestschreiben, die im Reichsjustizministeriurn eingingen, unbearbeitet an die 'Euthanasie'-Zentrale weitergeleitet, wo man die in diesen Schreiben enthaltenen Detailinformationen analysierte, um die Tarnung der 'Euthanasie'-Aktion zu perfektionieren. Die Obstruktion einer Vielzahl von Anstalten in kirchlicher Trägerschaft trug dazu bei, die Aktion zu verzögern und verminderte auf diese Weise die Zahl der Todesopfer, eine generelle Einstellung der Anstaltsmorde war so jedoch nicht zu erreichen. Bedenklich war das pro-domo-Denken vieler Anstaltsleitungen, das Bemühen, die eigenen Schutzbefohlenen zu retten, ohne sich um das Schicksal anderer, etwa staatlicher Anstalten zu kümmern, manchmal auch: die Bereitschaft, die Durchführung der 'Euthanasie'-Aktion in der eigenen Anstalt hinzunehmen, wenn man nicht unmittelbar in die 'Verantwortung einbezogen wurde. Wirksam wurde kirchlicher Widerstand nur, wenn er sich der Kanzel bediente, um eine Gegenöffentlichkeit herzustellen. Wegen des Zwangs zur Geheimhaltung, dem die ,Euthanasie'-Aktion unterlag, vermochte die Staatsführung auf diese Form der Obstruktion kaum zu reagieren und wich tatsächlich zurück. Die institutionellen Eigeninteressen der Kirchen, auf protestantischer Seite auch die Tradition der Zwei-Reiche-Lehre und des Staatskirchentums verhinderten, daß die Kirchen als Ganze öffentlich protestierten. Es waren nur einzelne Amtsträger - auf katholischer Seite mehrere Bischöfe (am bekanntesten ist hier der Münsteraner Bischof v. Galen), auf evangelischer Seite einzelne Pfarrer, Hilfsprediger und Vikare -, die sich offen gegen die 'Euthanasie'-Aktion stellten.
Zurück zum äußeren Ablauf der 'Euthanasie'-Aktion. Am 21. August 1941 erteilte Hitler seinem Begleitarzt Brandt den mündlichen Befehl, die 'Aktion T4' abzubrechen. Die in Betracht kommenden Gründe für die zumindest vorläufige Einstellung der Massenvergasungen sind schwer zu gewichten. Öffentliche Unmutsäußerungen in der Bevölkerung, Proteste von kirchlicher Seite (hier vor allem die berühmte 'Euthanasie'-Predigt des Bischofs v. Galen), die Berichterstattung über die 'Euthanasie'-Aktion im Ausland, Verschiebungen im Machtgefüge des NS-Regimes, der Überfall auf die Sowjetunion und die Öffnung des Ostraums', der unter dem Terror-regime der SS die Möglichkeit zu einem ungleich größeren Vemichtungsfeldzug bot, alle diese Faktoren haben sicherlich eine Rolle gespielt.

Mit der Einstellung der Massenvergasungen im Rahmen der Aktion T4' war die ,Euthanasie'-Aktion keineswegs beendet. Der Nürnberger Ärzteprozeß hat die Patientenmorde nach dem August 1941 zwar am Rande mit behandelt, aber den Eindruck vermittelt, als habe es sich um ein ungeplantes und regelloses Verfahren, eben um "wilde Euthanasie", gehandelt. Die neuere Forschung hat demgegenüber herausgearbeitet, daß nach einer kurzen Phase der Orientierungslosigkeit eine Reorganaisation des Eu-Apparates einsetzte und die Patientenmorde, in manchen Regionen sogar in noch viel größerem Umfang, fortgesetzt wurden.
Von den Tötungsanstalten, die im August 1941 noch in Betrieb waren, wurde nur Hadamar vorübergehend stillgelegt. Die Vergasungsanlagen in Hartheim, Bemburg und Sonnenstein blieben erhalten. Hier wurden KZ-Häftlinge vergast - darauf komme ich noch zu sprechen. Außerdem wurde die Kinder-,Euthanasie' durch die schrittweise Heraufsetzung der Altersgrenze auf zuletzt 16 Jahre ausgedehnt. Schließlich setzte nach dem August 1941 in zahlreichen Anstalten, die in Verbindung zur 'Euthanasie'-Zentrale standen, die sog. 'wilde Euthanasie' ein. Tausende von Anstaltspatienten wurden nunmehr in den Stammanstalten durch überdosierte Medikamentengaben oder Nahrungsmittelentzug umgebracht. Über den 'Lebenswert' oder Lebensunwert' eines Anstaltsbewohners entschieden jetzt Ärzte, Schwestern und Pfleger 'vor Ort'. Ausschlaggebend war und blieb der Gesichtspunkt der Arbeitsfähigkeit. Aber auch Patienten, die dem Personal lästig waren, wurden hingerichtet. Ein Fluchtversuch oder ein Diebstahl, Aufsässigkeit oder Widersetzlichkeit, Unruhe, Bettnässen oder Unsauberkeit, Selbstbefriedigung oder Homosexualität konnten für einen Anstaltsbewohner das Todesurteil bedeuten.
Die 'Euthanasie'-Zentraldienststelle blieb über den August 1941 hinaus erhalten. Sie nutzte die Zwangspause, um alle Patienten der Heil- und Pflegeanstalten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches lückenlos zu erfassen, um auf der Grundlage dieser Zentralkartei nach einer Aufhebung des Euthanasie'-Stopps die Massenvemichtungsmaßnahmen wiederaufnehmen zu können. Die Chance zur Wiederaufnahme der Euthanasie' im großen Stil bot sich, als infolge der Verschärfung des Luftkriegs über Deutschland im Jahre 1943 Heil- und Pflegeanstalten in verstärktem Maße als Ausweichkrankenhäuser genutzt wurden. Die dadurch notwendig gewordenen weiträumigen Verlegungen von Anstaltspatienten wurden in die Zentren der ,wilden Euthanasie' geleitet. Die im Zusammenhang mit der Räumung von Heil- und Pflegeanstalten im Einzugsbereich luftgefährdeter Gebiete stehenden Krankentötungen wurden nach Karl Brandt, der inzwischen zum Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen aufgestiegen war, als 'Aktion Brandt' bezeichnet. Wie in der Phase der 'wilden Euthanasie' vom Herbst 1941 bis Frühjahr 1943 wurden die Krankentötungen in den Jahren 1943 bis 1945 dezentral ausgeführt, d.h. gemordet wurde nicht in einzelnen umgerüsteten Tötungsanstalten, sondern im Normalbetrieb der Heil- und Pflegeanstalten. Anders als in der Phase der wilden 'Euthanasie' wurden die Mordopfer nun aber wieder in großen Transporten, die zentral gelenkt waren, zu den Tötungsstätten gebracht. Dabei weitete sich der Kreis der Opfer zusehends aus. Betroffen waren jetzt auch die Bewohner von Altersheimen, Menschen, die bei den schweren Bombenangriffen auf deutsche Großstädte Nervenzusammenbrüche erlitten hatten, Soldaten, die auf die Schrecken des Krieges mit Zitteranfällen, Lähmungen oder Taubstummheit reagierten, schließlich auch tuberkulöse und psychisch erkrankte Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion.
Wieviele Anstaltspatienten der 'wilden Euthanasie' und der 'Aktion Brandt' zum Opfer fielen, läßt sich nicht genau bestimmen. In einigen Anstalten, die genauer untersucht worden sind, starben nach dem August 1941 erheblich mehr Menschen als bei der 'Aktion T4'. Jüngste sachkundige Schätzungen gehen mittlerweile von einer Opferzahl zwischen 200.000 und 300.000 aus. Von den vier Berliner Anstalten - Buch, Wittenau, Herzberge und Wuhlgarten - blieben bis 1943 nur die Wittenauer Heilstätten bestehen. Insgesamt ging die Zahl der Psychiatriepatienten in Berliner Einrichtungen von 9.204 im Jahre 1939 auf 1.807 im Jahre 1945 zurück. Dieser Rückgang ist zum kleineren Teil auf die Umwidmung psychiatrischer Betten zurückzuführen, zum größeren Teil jedoch auf den Krankenmord.
Ein besonders düsteres Kapitel muß ich noch ansprechen: In den späten Phasen der "Euthanasie" wurden die Krankenmorde auch zur Grundlagenforschung genutzt: In zwei Forschungsabteilungen - eine Anfang 1942 in der Heil- und Pfleganstalt Brandenburg-Görden unter Prof. Hans Heinze, die andere Ende 1942 in der badischen Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch unter Prof. Carl Schneider, dem ehemaligen Chefarzt von Bethel. Hier wurden geistig behinderte Kinder - "interessante Fälle", die man von überall her zusammengezogen hatte, gründlich untersucht, ehe man sie in die "Euthanasie"-Anstalten abschob, wo man ihnen nach der Vergasung die Gehirne entnahm. So konnte die klinische durch die pathologische Untersuchung ergänzt werden - etwa am Kaiser-Wilhelm-Institut für Himforschung in Buch.
Ich möchte nun auf die Verbindungslinien zwischen der 'Euthanasie' und dem Holocaust zu sprechen kommen. Erstaunlicherweise hat die hist. Forschung diese Linien jahrzehntelang kaum beachtet. In den endlosen Debatten der Zeithistoriker um die Genese des Holocaust spielte die Eu. lange Zeit so gut wie gar keine Rolle.

Die erste dieser Verbindungslinien geht von den jüdischen Anstaltspatienten aus. Unter den etwa 350.000 psychisch Kranken und geistig Behinderten, die im Jahre 1939 in den Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches verwahrt wurden, befanden sich etwa 2.000 bis 5.000 Juden. Bis 1938 gingen diese jüdischen Patienten in der Masse der Anstaltsbevölkerung auf. Sie litten zwar - wie die nichtjüdischen Patienten - unter der starken Überbelegung der Anstalten und der sich dramatisch verschlechternden Versorgung der Anstaltsbewohner, waren jedoch keinen besonderen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Mitte 1938 - im Zusammenhang nüt der allgemeinen Verschärfung der Judenpolitik im Vorfeld des Novemberpogroms setzte dann aber eine räumliche Ausgrenzung der jüdischen Patienten ein.
Im Juni 1938 verfügte das Reichsinnennünisterium, daß die jüdischen von den anderen Patienten getrennt werden sollten. Viele der jüdischen Patienten wurden daraufhin aus Krankenhäusern, Heil- und Pflegeanstalten abgeschoben und - soweit sie nicht in jüdischen Einrichtungen Aufnahme fanden - in einigen wenigen öffentlichen Anstalten zusammengezogen. Gerechtfertigt wurden diese Maßnahmen mit der vermeintlich drohenden Gefahr der 'Rassenschande', mit der angeblichen Weigerung arischer' Patienten, gemeinsam mit Juden untergebracht zu werden, oder des Personals, sich mit Juden abzugeben, und schließlich auch mit Bedenken, daß einer Anstalt, die jüdische Patienten in ihren Mauern duldete, der Status einer gemeinnützigen Einrichtung abgesprochen werden könnte. Diese 'Arisierung' der Anstalten mutet umso makabrer an, als sie zu einer Zeit geschah, da sich bereits die Vernichtung von Zehntausenden nichtjüdischen Patienten anbahnte.
Als die Euthansieaktion Ende 1939 anlief, hatte der Prozeß der räumlichen Segregation der jüdischen Anstaltspatienten also bereits begonnen, war aber noch nicht abgeschlossen. Im Sommer 1940 verfügte das Reichsinnenministerium die Zusammenlegung aller jüdischen Patienten. Daraufhin wurden deutsche, polnische und staatenlose 'Volljuden' in Sammelanstalten untergebracht (u.a. in der Heil- und Pflegeanstalt Buch).
Das Schicksal der jüdischen Patienten ist lange Zeit im verborgenen geblieben. Dies lag zum einen daran, daß die T4 Zentrale die Spur der jüdischen Anstaltspatienten noch während der Euthanasieaktion zu verwischen versuchte. Zum anderen haben die Angeklagten im Nümberger Ärzteprozeß - was das Schicksal der jüdischen Patienten angeht - offensichtlich gelogen.
Es kann im Gegensatz zu ihren Aussagen kein Zweifel daran bestehen, daß auch jüdische Patienten der Euthanasieaktion zum Opfer gefallen sind. Die Meldebogen, die seit dem Oktober 1939 von der Berliner Euthanasiezentrale an die Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches verschickt wurden, waren ausdrücklich auch für alle Patienten auszufallen, die "nicht deutschen oder artverwandten Blutes" waren. Dies deutet darauf hin, daß man von Anfang an daran gedacht hat, sämtliche in den Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten Juden (und wohl auch die Sinti und Roma) zu vernichten. Diese Menschen standen unter einem doppelten Fluch - sie galten als erblich belastet und rassisch minderwertig. Sicher ist, daß Juden schon zu Beginn der 'Aktion T4' als Einzelpersonen in die Vernichtung einbezogen wurden. Erst im Sommer 1940 beschloß man - höchstwahrscheinlich mit Wissen und Zustimmung Hitlers -, die jüdischen Patienten als geschlossene Gruppe zu ermorden - ohne die oberflächliche Begutachtung, der die anderen Euthanasieopfer unterlagen. So ist es zu erklären, daß die in den Sammelanstalten zusammengezogenen Juden umgehend weiterverlegt wurden. Der genaue Bestimmungsort der Transporte wurde geheimgehalten, als Zielgebiet allgemein das Generalgouvemement genannt. Zunächst war wohl vorgesehen, die jüdischen Patienten ganz einfach verschwinden zu lassen, weshalb auch keine Akten geführt werden durften. Im Verlauf des Jahres 1940 ging man dann aber zu einer anderen Sprachregelung über: Fortab hieß es offiziell, daß die jüdischen Patienten in eine "Reichsanstalt Cholm" in der Nähe von Lublin im Generalgouvemement verlegt worden seien. Tatsächlich aber bestand die Anstalt Chelm-Lubelski, deren 440 polnische Patienten im Januar 1940 erschossen worden waren, zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr. Wir wissen heute, daß die in der Anstalt Berlin-Buch internierten jüdischen Patienten im Juli 1940 im ehemaligen Zuchthaus Brandenburg an der Havel vergast worden sind, wo die Euthanasiezentrale seit Februar 1940 eine Tötungsanstalt unterhielt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit endeten auch die anderen Judentransporte in der Gaskammer von Brandenburg.

Im Zuge dieser 'Sonderaktion' fanden mindestens 1.000 jüdische Patienten den Tod. Vereinzelt blieben Juden in den Heil- und Pflegeanstalten zurück, und diese wurden in der Folgezeit - soweit es sich um Juden deutscher Staatsangehörigkeit oder staatenlose und Juden aus Übersee handelte - wieder als Einzelpersonen den Sammeltransporten in die Euthanasiezentren zugeordnet, während sonstige ausländische Juden in jüdische Anstalten verlegt oder in ihr Heimatland abgeschoben werden sollten. Um zu verhindern, daß neue jüdische Patienten in Anstalten aufgenommen wurden, verfügte Linden im Dezember 1940, daß jüdische Kranke in Zukunft nur noch in der einzigen von der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" aufrechterhaltenen Anstalt Bendorf-Sayn bei Neuwied aufzunehmen seien. Allerdings hatte Bendorf-Sayn nicht die räumlichen Möglichkeiten, um alle jüdischen Patienten aufzunehmen, so daß einzelne Juden auch in anderen Anstalten verblieben.
Sie alle wurden seit dem Frühjahr 1942 mit den regelmäßig verkehrenden Deportationszügen nach und nach in die ostpolnischen Vernichtungslager verschleppt (Jakob van Hoddis). Nachdem im November 1942 die letzten Patienten aus Bendorf-Sayn deportiert worden waren, wurde diese Anstalt geschlossen und das Berliner Jüdische Krankenhaus zur Sammelstelle für jüdische Kranke bestimmt.
Die Tötung der jüdischen Anstaltsbewohner in der zweiten Hälfte des Jahres 1940 war der erste systematische Massemnord an deutschen Juden unter dem nationalsozialistischen Regime. Sie bildete daher in gewisser Weise den Auftakt zur 'Endlösung der Judenfrage' und stellt ein wichtiges Bindeglied zwischen Euthanasie und Holocaust dar.
Nach den jüdischen Anstaltspatienten geriet eine zweite Teilgruppe der deutschen Judenheit in das mörderische Räderwerk der Euthanasie: die jüdischen Häftlinge in den Konzentrationlagern. Zur Erinnerung: Bis 1938 wurden Juden nicht als Juden in die Konzentrationslager verschleppt, sondern als Kommunisten, Sozialisten, 'Asoziale' usw. Gleichwohl war ihr Verhaftungsrisiko ungleich größer als das der Nichtjuden. Waren sie erst einmal in ein Lager eingeliefert worden, so hatten sie unter deutlich schlechteren Lebensbedingungen zu leiden als die anderen Lagerhäftlinge. Sie waren bevorzugte Mißhandlungsopfer der Wachmannschaften, wurden - wie in Dachau - zu eigenen Judenkompanien' zusammengefaßt und in überfüllte Häftlingsblöcke gepfercht, schlechter ernährt, bekamen die härtesten und gefährlichsten Arbeitsplätze zugewiesen und durften nicht in die Krankenbauten aufgenommen werden. Die Mißhandlung der jüdischen KZ-Häftlinge nahm vernichtende Züge an, als nach dem Novemberpogrom etwa 36.000 Juden in Konzentrationslager verschleppt wurden, von denen bis zur Jahreswende 1938/39 mehrere hundert starben. Die Schrecken der 'Reichskristallnacht', die anschließende Verhaftung und die Mißhandlung im Lager überstiegen die psychische Kraft vieler jüdischer Häftlinge. In Buchenwald wurden etwa 70 Juden, die durch die brutale Behandlung in eine psychische Krise gestürzt worden waren, "in einer Art Vorwegnahme späterer Euthanasieaktionen"' kurzerhand erschlagen.

Obwohl die während des Novemberpogroms inhaftierten Juden zum größten Teil zur Auswanderung gezwungen wurden, fanden sich auch noch nach Kriegsbeginn in den deutschen Konzentrationslagern mehrere tausend Juden. Ihre Ermordung bahnte sich an, als Himmler zu Beginn des Jahres 1941 die T4-Zentrale ersuchte, ihm Ärzte zur Untersuchung von, Schwerstkranken' in den Konzentrationslagern zur Verfügung zu stellen. Die von der T4Zentrale entsandten Ärztekommissionen selektierten zwischen April und August 1941 in den Konzentrationslagern (Sachsenhausen, Mauthausen, Buchenwald und Auschwitz) insgesamt etwa 2.500 Häftlinge aus, die in den Tötungsanstalten Hartheim und Sonnenstein vergast wurden. Sie gehörten wohl überwiegend der Häftlingskategorie der 'Asozialen' an.
Nach der Einstellung der Aktion T4' wurde die 'Sonderbehandlung 14f13' über den Kreis der 'asozialen' Häftlinge hinaus ausgeweitet. Hatte der Anteil der von den Lagerärzten vorselektierten und den T4-Komissionen vorgestellten Häftlinge im Frühjahr/Sommer 1941 bei etwa 5-7% gelegen, so stieg er nach dem August 1941 in manchen Lagern auf über 50%, was dazu führte, daß das Arbeitstempo der Ärztekomissionen erheblich zunahm. Diese Beschleunigung war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die jüdischen KZ-Häftlinge nun offenbar als geschlossene Gruppe in die Vernichtung einbezogen wurden. So ist in einem Brief des T4-Arztes Friedrich Mennecke aus dem KZ Buchenwald vom 26. November 1941 von 1200 Juden die Rede, "die sämtlich nicht erst untersucht' werden, sondern bei denen es genügt, die Verhaftungsgründe (oft sehr umfangreich!) aus der Akte zu entnehmen u. auf die Bögen zu übertragen". Auffällig ist, daß Mennecke die Worte 'Untersuchung' und ,untersuchen' selber in Anführungszeichen setzte. Offenbar war er sich durchaus bewußt, daß das Begutachtungsverfahren bei der Aussonderung der KZ-Häftlinge vollends zur Farce geriet. Da nur die zur Erfassung der Anstaltspatienten entworfenen Meldebögen zur Verfügung standen, trug Mennecke als 'Diagnose' z.B. 'Rassenschänder', 'Hetzjude' oder 'asozialer Psychopath' ein. Hier zeigt sich deutlich, wie Kriterien des sozialen und anthropologischen Rassismus in die psychiatrische Diagnostik einfließen. Ähnlich wie bei den jüdischen Anstaltspatienten überschnitten sich also in der Vernichtung der jüdischen KZ-Häftlinge zwei Teilkomplexe der nationalsozialistischen Genozidpolitik: die Judenverfolgung und die sog. 'Ausmerze' der 'Gemeinschaftsfremden'. Bis Ende November 1941 selektierten die T4-Ärzte in den Konzentrationslagern (Dachau, Mauthausen, Ravensbrück, Buchenwald, Flossenbürg und Neuengamme) weitere 11.000 bis 15.000 Häftlinge aus und schickten sie ins Gas. Dabei stieg die 'Ausmusterungsquote' auf 20-33 %.
Nach dem November 1941 wurde die 'Sonderbehandlung 14f13' erheblich eingeschränkt. Hintergrund war die Verlegung eines Großteils des T4-Personals nach Polen, wo es beim Bau und Betrieb der Vemichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka eine zentrale Rolle spielte dazu später mehr. Von Dezember 1941 bis Januar 1942 war nur noch Mennecke in den Konzentrationslagem unterwegs, der sich nun im wesentlichen darauf beschränkte, die von den Lagerärzten und -Leitungen durchgeführte Vorselektion zu überprüfen. Auf diese Weise gelang es ihm, innerhalb dieser zwei Monate nochmals über 2.000 Häftlinge aus den Konzentrationslagem (Buchenwald, Ravensbrück und Groß-Rosen) auszumustem, die überwiegend in der Tötungsanstalt Bemburg vergast wurden. Danach haben wohl zunächst keine weiteren Selektionen stattgefunden. Dieser Stop der 'Sonderaktion 14f13' hing auch damit zusammen, daß die Dienststelle des Inspekteurs der Konzentrationslager im März 1942 aus dem SS-Führungsamt in das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt verlagert wurde. Das ökonomische Interesse an der Ausbeutung der Sklavenarbeit, die von den KZ-Häftlingen verrichtet wurde, gewann nun gegenüber dem rassistisch motivierten Vemichtungswillen zunehmend an Gewicht, so daß die 'Sonderbehandlung 14f13' zunächst nicht weiter fortgeführt wurde. Allerdings wurden 1944 noch einmal über 3.000 'Muselmänner' aus dem KZ Mauthausen in die nahegelegene Euthanasieanstalt Hartheim gebracht und vergast.
Die 'Sonderbehandlung 14f13', der insgesamt mindestens 20.000 Menschen zum Opfer fielen, markierte den Übergang vom Konzentrations- zum Vemichtungslagersystem. Bei dieser Aktion wurden erstmals jüdische Konzentrationslagerhäftlinge systematisch vernichtet und zwar zu einem Zeitpunkt, als die nationalsozialistische Judenpolitik noch auf territoriale Lösungen der 'Judenfrage' abzielte. Wenn man aber bedenkt, daß auch solche territorialen Lösungsvorschläge eine starke Dezimierung der Juden ins Kalkül zogen, so fügt sich die Vernichtung der jüdischen Anstaltspatienten und KZ-Häftlinge in dieses Bild. Hier zeigt sich, daß es im Zeitraum von 1939 bis 1941 fließende Übergänge zur 'Endlösung der Judenfrage' gab.
Während die T4-Zentrale den ersten Massenmord an Juden im Reichsgebiet einleitete, indem sie jüdische Anstaltspatienten und KZ-Häftlinge in die Euthanasieaktion einbezog, weiteten seit dem September 1939 SS-Einheiten, Sonderkommandos und Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, die Euthanasieaktion auf die östlichen Reichsprovinzen und das besetzte Polen aus. Die Hauptaufgabe der Einsatzgruppen und Sonderkommandos bestand freilich in der Liquidierung der polnischen und polnisch-jüdischen Intelligenz (15.000 Tote).
Nach den neuesten sachkundigen Schätzungen sind in Polen über 16.000 Patienten psychiatrischer Einrichtungen erschlagen, erschossen oder vergast worden, weitere 10.000 sind verhungert. Wenn Sie einen Eindruck von dem Schock gewinnen wollen, den die brutalen Liquidierungen in den polnischen Anstalten auslösten, empfehle ich Ihnen den Debütroman von Stanislaw Lern "Das Hospital der Verklärung" - nur wenige Leser wissen, daß Stanislaw Lern, einer der besten Science-fiction-Autoren der Gegenwart, Medizin studiert hat und als junger Arzt die Gewaltorgien der SS in polnischen Anstalten miterleben mußte.
Giftgas wurde - soweit bekannt - erstmals im Oktober 1939 im Fort VII in Posen zur Ermordung psychisch Kranker eingesetzt. Bald waren die Vergasungen gängige Praxis. So tötete ein Sonderkommando unter Befehl des SS-Obersturmbannführers und Kriminalrates Herbert Lange zwischen Dezember 1939 und Mai 1940 mehrere Tausend Psychiatriepatienten aus den Anstalten des Warthelandes, Danzig-Westpreußens und Ostpreußens. Dieses Sonderkommando führte einen mit der Aufschrift 'Kaisers-Kaffee-Geschäft' versehenen Gaswagen mit sich. Nach den Krankenmorden in den Jahren 1939/40 richtete das Sonderkommando Lange im Dezember 1941 in Chelmno im Wartheland das erste der nationalsozialistischen Vemichtungslager ein, wo - mit Hilfe von Gaswagen - zwischen Dezember 1941 und März 1943 mindestens 145.000 Menschen ermordet wurden, überwiegend Juden aus den Ghettos des Warthelandes. Eine Verbindungslinie zwischen Euthanasie und Holocaust verläuft also von den Gaskammern der ,Aktion T4' über den Gaswagen des Sonderkommandos Lange zun Vemichtungslager Chelmno. Die Gaswagen stellen aber auch ein Bindeglied zwischen der Euthanasieaktion und den Einsatzgruppemnorden in der Sowjetunion dar.
Als die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion einrückte, folgten ihr vier Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, die einen Massenmord bis dahin unvorstellbaren Ausmaßes anrichteten. Gesamtbilanz: Im Frühjahr 1943, beim Beginn des Rückzugs der Wehnnacht von sowjetischem Territorium, hatten die Einsatzgruppen 1,25 Mio. Menschen ermordet.
Zu den Opfern der Einsatzgruppen gehörten, was oft übersehen wird, nicht nur Juden, holschewistische Funktionäre und Partisanen, sondem auch Sinti und Roma, sog. 'Asoziale' und auch psychisch kranke Menschen. Die Einsatzgruppe A, die in der Etappe der Heeresgruppe Nord im Baltikum operierte, und die Einsatzgruppe C, die im rückwärtigen Gebiet der Heeresgruppe Süd in der nördlichen und mittleren Ukraine eingesetzt war, führten zahllose Massenerschießungen psychisch kranker Menschen durch, die mitunter den Abschluß eines stufenweisen Vernichtungsfeldzuges gegen die Bewohner der psychiatrischen Krankenhäuser bildeten. Der frei gewordene Anstaltsraum wurde in der Regel der Wehrmacht zur Verfügung gestellt. Dabei ergriffen Wehnnachtsstellen auch von sich aus die Initiative.
Seit Dezember 1941 verfügten die Einsatzgruppen über etwa 30 Gaswagen. Zum Massenmord an Psychiatriepatienten wurden die Gaswagen insbesondere von der Einsatzgruppe D benutzt, die im rückwärtigen Heeresgebiet der 11. Armee in der südlichen Ukraine, auf der Krim und im Nordkaukasus operierte.

Die Euthanasiezentren waren aber auch Vorbild für die Gaskammem in den nationalsozialistischen Vemichtungslagem. Ein Brief des Judenreferenten im Ministerium für die besetzten Ostgebiete, Emst Wetzel, vom Oktober 1941 belegt, daß die T4-Zentrale in die Planungen zur Errichtung einer stationären Vergasungsanlage in Riga eingeschaltet war - ein Projekt, das dann offenbar wieder aufgegeben wurde. Stattdessen entstanden die mit stationären Vergasungsanlagen ausgerüsteten Vemichtungslager in Ostpolen.
Zur Vernichtung der polnischen Juden wurden Ende 1941/Anfang 1942 im Bezirk Lublin die Vemichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka errichtet, wo bis zum Oktober 1943 mindestens 1,75 Mill. Menschen ermordet wurden. Diese Vemichtungsaktion wurde nach dem im Juni 1942 bei einem Attentat ums Leben gekommenen Heydrich als 'Aktion Reinhard' bezeichnet.
Die 'Aktion T4' und die Aktion Reinhard' waren eng miteinander verschränkt. In zwei Versetzungsschüben im letzten Viertel des Jahres 1941 und im ersten Viertel des Jahres 1942 stellte die T4-Zentrale insgesamt 92 Angestellte an die 'Aktion Reinhard' ab. Obwohl diese Leute einen SS-Rang erhielten, blieb die T4-Zentrale ihr Arbeitgeber, zuständig etwa für Abberufungen und Beurlaubungen. Sie stellten etwa 20% des Gesamtpersonals der Aktion Reinhard', aber fast die gesamte Besatzung der Vemichtungslager einschließlich der Lagerkommandanten und ihrer Stellvertreter. Der Kriminalkommissar, später Polizeimajor Christian Wirth, der in den Jahren 1940/41 zunächst als Büroleiter in den Euthanasieanstalten Grafeneck, Brandenburg und Hartheim tätig gewesen war und später im Auftrag der T4-Zentrale die Tötungsanstalten inspiziert hatte, war von Dezember 1941 bis August 1942 Kommandant von Belzec, ehe er zum hispekteur der drei Vemichtungslager der 'Aktion Reinhard' aufstieg.
Von daher war es kein Zufall, daß die Vergasungsanlagen in den Vemichtungslagem der ,Aktion Reinhard' den Gaskammmern in den Euthanasieanstalten stark ähnelten. Halten wir fest: Die Ursprünge der Gaskammern, die zum Signum der fabrikmäßigen Massenvemichtung der europäischen Judenheit geworden sind, reichen zurück in die nationalsozialistische Euthanasieaktion. Dies gilt auch für Auschwitz, wo - im Gegensatz zur 'Aktion T4' und zur 'Aktion Reinhard'- nicht mit Kohlenmonoxyd, sondern mit Zyklon B getötet wurde. Als Auschwitz in ein Vemichtungslager umgerüstet werden sollte, schickte man eine Gruppe von Häftlingen in die Euthanasieanstalt Sonnenstein und ließ sie dort vergasen, um daraus Lehren für die Organisation des Vemichtungsapparates in Auschwitz zu ziehen. Viele organisatorische Details z.B. die Tarnung der Gaskammem als Duschräume oder die Verbrennung der Leichen in Krematorien - wurden von der 'Aktion T4' in die Vemichtungslager übemommen. Dies hatte zur Folge, daß die Judenvemichtung über weite Strecken wie eine ins Millionenfache gesteigerte Euthanasiepraxis anmutete.

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