Prof. Dr. Gerburg Treusch-Dieter

Berlin, den 31.5.2000

Statement anläßlich der Ausstellung der Bronzebüsten
von Igael Tumarkin

Daß sich die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales des Landes Berlin noch immer nicht in der Lage sieht, „die Rolle Karl Bonhoeffers" als Arzt „abschließend zu bewerten", obwohl er Gutachter für den Erbgesundheits-Gerichtshof war, und Richter am Erbgesundheits-Obergericht in Berlin, außerdem ein von Hitler selbst ernanntes, außerordentliches Mitglied des wissenschaftlichen Senats des Heeres-Sanitäts-Wesens, dies weist auf die Aktualität dieser „Rolle" hin.

Bezogen darauf, daß Karl Bonhoeffer als Gutachter und Richter das Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses" (1933) vertrat, und darum auch die damit verbundenen Nürnberger Rassegesetze (1935), das Blutschutz- und das Reichsbürgergesetz, die erstens besagen, „Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist", und zweitens, der eheliche und außereheliche Geschlechtsverkehr zwischen Deutschen und Juden ist zwecks „Reinerhaltung dieses Blutes" verboten: bezogen darauf, scheint diese „Rolle" zwar abgespielt. Denn heute ist es nicht mehr das Blut, das den „Fortbestand" eines einzigen „Volkes", den des „deutschen Volkes" sichern soll, sondern heute ist es das menschliche Genom, das in Verbindung mit der neoliberalistischen Globalisierung den Fortbestand der Menschheit weltweit garantieren soll. Wird aber einbezogen, daß die Macht-Wissensproduktion, die sich auf das menschliche Genom beruft, nicht nur dieselben Ziele verfolgt, die der Verhütung erbkranken Nachwuchses und die der Reinerhaltung des Geschlechtsverkehrs, sondern, daß diese Macht-Wissensproduktion diese Ziele auch weit übersteigt, dann leuchtet es ein, daß die „Rolle" von Karl Bonhoeffer, der selbst nur ein Beispiel für diese Entwicklung ist, noch „nicht abschließend bewertet" werden kann, wie dies die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales des Landes Berlin 1997 formuliert.

Das Nichtabschließbare dieser Bewertung ist an dieser Macht-Wissensproduktion orientiert, die täglich neue Ergebnisse präsentiert. Unter der Bedingung der 1953 entdeckten DNS sind diesen humangenetischen Ergebnissen, wie immer sie sich multiplizieren, zwei epochale Fakten vorausgesetzt, die in den 60er und 70er Jahren von den USA und England ausgehen, an deren „Fortschrittlichkeit" die nationalsozialistische Sozial- und Gesundheitspolitik mit ihrem Dreh- und Angelpunkt der Geburtenkontrolle ausgerichtet ist. In eben diesem Dreh- und Angelpunkt sind auch jene beiden epochalen Fakten plaziert, die etwa zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus handhabbar sind. Erstens, die Neuzusammensetzung der zerschnittenen DNS, zweitens, die Herausnahme der Lebensentstehung aus dem weiblichen Körper. Das erste Faktum, die Neuzusammensetzung der DNS, ermöglicht den pränatalen Eingriff in die „Erbsubstanz", indem es die Stelle der postnatalen Verhütung von erbkrankem Nachwuchs einnimmt, das zweite Faktum, die Herausnahme der Lebensentstehung aus dem weiblichen Körper, ersetzt die Zwangssterilisation, indem es außerdem die Reinerhaltung des Geschlechtsverkehrs vom Verkehr mit dem Geschlecht einschließt.

Mit diesen epochalen Fakten sind beide Anstrengungen der nationalsozialistischen Sozial- und Gesundheitspolitik - die Kontrolle des Geschlechtsverkehrs zwecks der Geburtenkontrolle des Nachwuchses - in einem Umfang überschritten, den ein UNESCO-Papier, wie folgt, formuliert: „Dank der Entdeckungen in Genetik, Neurobiologie und Embryologie hat der Mensch zum ersten Mal die Macht in Händen, in den Entwicklungsprozess allen Lebens, einschließlich seines eigenen, verändernd einzugreifen". In dem Maß, wie dieser verändernde Eingriff heute in zwei Verfahren der Gen- und Reproduktionstechnologie kulminiert - im Verfahren der Präimplantationsdiagnostik (betrifft die Neuzusammensetzung der DNS) und im Verfahren der extrakorporalen Embryo-Produktion unter Ausschaltung des Geschlechtsverkehrs (betrifft die Herausnahme der Lebensentstehung aus dem weiblichen Körper) - in dem Maß ist heute, bezogen auf den Entwicklungsprozess des Menschen, eine auf das „lebensunwerte Leben" von „erbkrankem Nachwuchs" oder auf das Leben von „rassenschänderischen Volksschädlingen" angewendete Sterilisation ‘out’.

Seitens der Erbgesundheits-Gerichte wurde diese Sterilisation zwar „gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden", beziehungsweise durch „die Anwendung unmittelbaren Zwangs" angeordnet, aber sie zielte immer schon - ob betrieben durch Massen-Experimente im Rahmen der Konzentrationslager-Forschung, oder ob betrieben im Rahmen der Kriegsforschung, zu der Karl Bonhoeffer von Hitler 1942 hinzugezogen wird - sie zielte immer schon auf das Gegenteil: darauf, daß der „Wille" des „Unfruchtbarzumachenden" sich nicht ausspricht, also darauf, daß kein „unmittelbarer Zwang" angewendet wird. Denn schon im Nationalsozialismus geht es stets um das Erproben einer Methode der „unbemerkten Sterilisation". Sie ist heute sowohl bezogen auf die Ausschaltung des Geschlechtsverkehrs durch die Herausnahme der Lebensentstehung aus dem weiblichen Körper als auch bezogen auf die Präimplantationsdiagnostik erreicht: dort ist die Sterilisation reproduktionstechnologisch, hier ist sie gentechnologisch ersetzt, da ein Zellhäufchen mit „lebensunwertem" Genom nicht bemerkt, wenn es weggeworfen wird.

Reproduktions- und Gentechnologie verbinden sich heute mit der Informationstechnologie bis hin dazu, daß ein Steuerungsdispositiv der globalisierten Dienstleistungsgesellschaft in Aussicht steht, das sich vom nationalsozialistischen Züchtungsdispositiv der Arbeitsgesellschaft durch einen Paradigmenwechsel unterscheidet. Erstens ist das Organisationsprinzip des Körpers nicht mehr die Maschine, sondern der Computer, zweitens rekurriert der ausschlaggebende Evolutionsbegriff nicht mehr auf die Erbbiologie und das Geschlecht, sondern auf die Molekularbiologie und das Gehirn. Von hier aus zeichnet sich ein alter und neuer Körper ab. Der alte Körper wird dem Gentest bei Lebzeiten unterstellt, und für die Euthanasie bei nicht eintretendem Tod freigegeben: sollte er als Hirntod zu formulieren sein, zieht er die Organex- und transplatation nach sich. Dem neuen Körper wird, ausgehend von einer extrakorporalen Embryo-Produktion in Verbindung mit der Präimplantationsdiagnostik, die Überwindung von Tod und Geburt mittels einer Verschaltung von Molekular- und Informationstechnologie versprochen.

Das Schlagwort, „Nationalsozialismus ist angewandte Biologie", hat sich im Namen weltweiter „Life sciences" entgrenzt. Als angewandte Molekular- und Informationstechnologie, schließt es ein, daß diese „Life sciences" nicht mehr rassenideologisch, sondern bioethisch gerechtfertigt werden. Die entsprechende Bioethik-Konvention, in deren Zentrum die „Versuchsperson" steht, ist zwar noch nicht weltweit verabschiedet - wie dies 1998 zum 50-jährigen Jubiläum der Deklaration der Menschenrechte von 1948 vorgesehen war, denn auch hier muß auf die täglich neuen Ergebnisse der humangenetischen Macht-Wissensproduktion gewartet werden - aber die Sozial- und Gesundheitspolitik Europas kann sich seit 1997 auf diese Konvention berufen, die Ärzten, jener Berufsgruppe mit dem höchsten Organisationsgrad in der NSDAP, bei ihren Experimenten zur Herstellung des versprochenen, neuen Körpers die dafür unerläßliche Rückendeckung gibt. Alexander Mitscherlich prognostiziert in seiner Dokumentensammlung zum Ersten Amerikanischen Militärtribunal in Nürnberg 1946 anläßlich der dort verhandelten Menschenversuche, daß „die Lage des Arztes (...) durch die technische Entwicklung und das Entstehen sozialer Riesengebilde wie (diejenigen) der modernen Staaten (...) eine unveränderte Anwendung der Hippokratischen Formel nicht mehr (zuläßt). Jedenfalls nicht, ohne daß alle Konsequenzen (dieser Versuche) wirklich an den Situationen der uns umgebenden Welt erprobt werden". Er sieht darin eine nicht nur auf Deutschland beschränkte „Versuchung (...), die im gegenwärtigen Entwicklungsstadium überall in unserem Zivilisationskreis entsteht. Die Diktatur verschärft sie nur und ebnet ihr die Wege".

Ihre demokratische Lösung liefert die Bioethik-Konvention (sie wird nach der Fassung vom 6. Juni 1996 zitiert), denn die „Versuchsperson" in ihrem Zentrum wird in ihrem eigenen Interesse „erprobt": als „Proband", was laut Brockhaus „Lehramtsanwärter" heißt. Als solcher wird sie über die bioethische Maxime belehrt, daß „jedermann" von Organen und Geweben, über Embryonen und Keimzellen, bis hin zu seinen Genen allen gehört „mit dem Ziel, daß die gesamte Menschheit in den Genuß der Ergebnisse von Biologie und Medizin kommen kann". Daß die „Versuchsperson" beim „Genuß" der dafür angewendeten, „medizinischen Eingriffe, einschließlich der medizinischen Forschung", kostenlos zur Verfügung zu stehen hat, versteht sich von selbst, da „der menschliche Körper und seine Teile als solche nicht zur Erzielung eines finanziellen Gewinns" infrage kommen, auch dann nicht, wenn seine „Körperstücke (...) gelagert und für einen anderen Zweck als den bei der Entnahme vorgesehenen verwendet werden". Umgekehrt gilt, daß diese „Eingriffe im Bereich der Gesundheit" ein Humankapital akkumulieren, das die medizinische Forschung umso mehr finanziert, je mehr sie in die Produktion von Krankheit mittels ihrer Therapie investiert, weshalb „defekte Gene" schon jetzt als „Kostbarkeiten" gelten.

Die Unterscheidung zwischen ärztlichem Experimentator und Therapeut, die 1946 in Nürnberg verhandelt wird, und die für Mitscherlich „bis in die humanen Grundverpflichtungen hinein, die Wirkung des Arzttumes in sich aufhebt": diese Unterscheidung wird in der Forschungslogik der Konvention zugunsten des ärztlichen Experimentators vorausgesetzt, der als Therapeut Forschung treibt. „Der Mißbrauch von Biologie und Medizin (kann dabei) zu Handlungen führen, die die Menschenwürde gefährden", doch die „allgemeine Regel", daß „ungehindert und frei geforscht werden soll", gefährdet dies nicht, da „die Risiken für die Versuchsperson (stets) in einem angemessenen Verhältnis zum potentiellen Nutzen der Forschung (stehen)". Sollten die aktuellen Risiken doch höher, oder tödlich, in Relation zum potentiellen Nutzen der Forschung sein - was bezogen auf „nicht-freiwillige Versuchspersonen" in Nürnberg 1946 den Anklagepunkt der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit" erfüllte - dann schließt die Bioethik-Konvention heute ein solches Verbrechen von vornherein aus, da immer gilt: „medizinische Eingriffe im Bereich der Gesundheit sind nur nach der vorherigen freiwilligen und informierten Einwilligung der betroffenen Person erlaubt". Auch wenn ihr schon die Niere fehlt, kann sie noch widerrufen. Für ihre „freiwillige Einwilligung" empfiehlt die Konvention eine „geeignete Information", da der „Proband" sich ihre Verarbeitung erst erarbeiten muß.

Im Allgemeinen aber „(hat) jedermann das Recht, sämtliche Informationen zu kennen, die über seinen Gesundheitszustand gesammelt worden sind". Im Besonderen wird dieses Recht „durch Gesetz eingeschränkt", was jedoch „im Interesse des Patienten" geschieht, dessen „Wunsch (...), nicht informiert zu werden (...), zu beachten (ist)". Jedes „Forschungsprojekt", in das der Proband „einbezogen" wird, ist im internationalen Vergleich auf „wissenschaftlichen Nutzen" zu prüfen und für Kliniken, Krankenkassen, Konzerne, Ehe- und Schwangerschafts-, oder Berufsberatung und Arbeitsämter auszuwerten, „das Recht (...) seiner Privatsphäre" bleibt jedoch „im Hinblick auf (...) seine Gesundheit" gewahrt. Falls er nicht versichert oder nicht eingestellt wird oder hört: „das mit Ehe und Kind - leider!", dann ist er selbst schuld. Davon, daß über seine genetischen „Prädispositionen" oder „Anfälligkeiten" für Krankheit Information weitergegeben worden wäre, kann keine Rede sein.

Trotz rabiatester Lebensverwertung wahrt die Bioethik-Konvention jeden Lebenswert, der nicht Unwert ist. Norm ist die „einwilligungsfähige Versuchsperson" und ihre Abweichung. Sie reicht vom Minderjährigen, über den Erwachsenen mit „einer geistigen Behinderung, einer Krankheit oder aus einem ähnlichen Grunde", bis hin zur „Geisteskrankheit". Als solche ist sie in ihrer Besonderheit „nicht-einwilligungsfähig", das heißt, sie wird sondiert, ausgesondert und sonderbehandelt. Denn im Europa- und baldigen Welt-Labor herrscht pro Kopf der Normal- als „Notfall", für den die Konvention „jeden medizinisch notwendigen Eingriff (...) ohne Aufschub erlaubt", insbesondere, wenn die Versuchsperson nicht eingewilligt hat. Ein „Vertreter", Behörden, Gremien und Kommissionen werden die Sache, oder Verschlußsache, übernehmen. Auch im Normal- als Ausnahmezustand - auf den sich die verurteilten Ärzte in Nürnberg 1946 bei ihren Menschenversuchen beriefen - geht es von der Organtransplantation bis zur Embryonenforschung, vom Gentest bis zur Veränderung des menschlichen Genoms, mit rechten Dingen zu. Laut Bioethik-Konvention bürgen die „Pflichten und Normen" einer - bezeichnenderweise ungenannten - „Berufsausübung" dafür. Man hat aus Nürnberg gelernt, daß es heute, angesichts der Macht des Menschen, dank seines Wissens und seiner technischen Errungenschaften verändernd in den Entwicklungsprozess allen Lebens einzugreifen, um „Verbrechen (geht), die Geist verlangen", wie Ingeborg Bachmann schreibt: „(um Verbrechen) also, die uns am tiefsten berühren - dort fließt kein Blut und das Gemetzel findet innerhalb des Erlaubten statt".

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