Copyright © Psychosoziale Umschau 4/2001
Solidarität für ein Haus des Eigensinns
von Dorothea Buck
Nicht zufällig begann der vom Politikprofessor an der Freien Universität Berlin Wolf-Dieter Narr und dem »Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg« veranstaltete Kongress »Freedom of Thought« mit dem »5. Russell-Tribunal zur Frage der Menschenrechte in der Psychiatrie« und »Geist gegen Gene« vom 29.06-1.7.2001 - unmittelbar vor dem »7. Weltkongress für Biologische Psychiatrie« vom l.-6. Juli 2001.
Die zunehmende Dominanz der biologistischen Sichtweise in der heutigen Psychiatrie muss uns zutiefst beunruhigen. Denn ungeachtet der gar nicht erst erfragten Patientenerfahrungen ihrer seelisch verursachten Psychosen beharren die Biologisten auf der Vorstellung einer nur mit Psychopharmaka zu stoppenden »endogenen«, durch eine Hirnstoffwechselstörung verursachten Psychose.
Dass Körperkrankheiten wie Magengeschwüre seelisch verursacht sein dürfen, seelische Erkrankungen dagegen nicht, wird keinem vernünftigen Menschen einleuchten. Mit diesem heute wieder dominierenden Erblich-bedingten-Somatose-Dogma begründeten zu meinen Psychiatriezeiten die deutschen Psychiater ihre gegen uns als »minderwertiges und lebensunwertes Leben« gerichteten Ausrottungsmaßnahmen der Zwangssterilisation und der Patientenmorde von 1933-45. Sie führten sie rigoros ohne ein Gespräch gegen uns durch. Auch heutige Psychiatriepatienten können diese entmutigende, aus einer defizitären psychiatrischen Sichtweise resultierende menschliche Geringschätzung noch erleben, werden nicht selten keines Gesprächs über die Sinnzusammenhänge zwischen ihren Psychoseinhalten und ihren vorausgegangenen Lebenskrisen für würdig erachtet. Sie fühlen sich daher auch heute noch oft nicht ernst genommen.
Als im Jahre 1951 der Direktor der Zürcher Universitätspsychiatrie, Manfred Bleuler seinen damals berühmten Übersichtsbericht über die »Forschungen und Begriffswandlungen in der Schizophrenielehre 1941 bis 1950« herausgab, ließen diese aus den psychotherapeutischen Gesprächen gewonnenen Einsichten mehr über das Wesen der Schizophrenie erkennen als es den heutigen bildgebenden
Verfahren über hirnorganische Prozesse ohne eingehende Gespräche je möglich sein kann.
Alexander Mitscherlich schrieb darüber: »Englisch-amerikanische, französische, italienische und deutschsprachige Veröffentlichungen fanden Berücksichtigung. Nicht weniger als 1100 Arbeiten wurden referiert. Was ist nun das Ergebnis dieser sorgfältig erarbeiteten Übersicht? (...) Der Überblick Bleulers hat gezeigt, dass die therapeutische Erschließung schwerer und chronischer Psychosen durch individuelle, intensive Psychotherapie als erfolgreich erwiesen ist, dass es uns aber noch an genauerer Kenntnis der spezifischen seelischen Verletzungen, des Verhältnisses von Konstitution und Milieu fehlt. Uns diese Kenntnis zu verschaffen, ist ohne Zweifel die Aufgabe der Grundlagenforschung, also der Universitäten. Ist hierzu in unserem Lande etwas geschehen, etwas, was sich im Umfange der Versuche, an forscherischer Geduld, an Freiheit, die man für solche Untersuchungen braucht, mit den Anstrengungen, die man in der Schweiz, Frankreich, Amerika macht, vergleichen ließe? Mit verschwindenden (und ruhmreichen) Ausnahmen: nein (...) Fest steht die Tatsache, dass wir den Anschluss an einen großen Forschungsversuch bisher nicht gefunden haben, dass kaum Grundlagenforschung betrieben werden darf (weil sie auf das Veto der Autorität trifft), dass deshalb breite Erfahrungsgrundlagen fehlen ...« (Alexander Mitscherlich »Krankheit als Konflikt - Studien zur psychosomatischen Medizin l, Edition Suhr-Kamp 1966)
Zur selben Zeit, als sich 1941-1950 in den genannten Ländern die »therapeutische Erschließung schwerer und chronischer Psychosen durch individuelle, intensive Psychotherapie als erfolgreich erwies«, brachten unsere deutschen Psychiater ihre chronisch schizophrenen Patientinnen als »lebensunwert« um. Wie hätten sie da die erfolgreiche Psychotherapie auch chronisch schizophrener Menschen akzeptieren können?
Ihre damals gesprächlose und heute immer noch gesprächsarme Psychiatrie, die erst zu diesen Verbrechen hatte führen können - denn Menschen mit denen man nicht spricht, lernt man auch nicht als Menschen kennen -, hat mich seit meinen eigenen Erfahrungen in fünf Psychiatrien zwischen 1936 und 1959 als so wenig hilfreich beunruhigt, dass daraus die Idee und Verwirklichung des gleichberechtigten Erfahrungsaustausches in unseren Psychose-Seminaren,
derTrialog, entstand. Aber die Psychiater, für die ich diesen Austausch mit Betroffenen und Angehörigen vor allem gedacht hatte, nehmen nur vereinzelt an unseren Psychose-Seminaren teil. Die (demokratische) Gleichberechtigung aller Seminarteilnehmer scheint nicht zu unserer immer noch autoritär-hierarchischen Psychiatrie zu passen. So äußerte Prof. Wolfgang Gaebel bei unserem ersten Hamburger Forum Rehabilitation 1995 sein Unverständnis darüber, dass wir uns in unserem »Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener« organisierten. Sie, die Psychiater, würden doch die Interessen der Betroffenen vertreten. Da ist es nur logisch, dass er unseren Bundesverband erst gar nicht in die laufende so genannte Anti-Stigma-Kampagne (»open-the-doors«) einbezog. Unserem BPE-Forschungsprojekt »Psychose- und Depressionserfahrene erforschen sich selbst«, gelingt es hoffentlich besser, die Psychiater davon zu überzeugen, dass eine Wissenschaft von der Seele des Menschen die seelischen Erfahrungen der Betroffenen erfragen und ernst nehmen muss.
Beim »Russell-Tribunal zur Frage der Menschenrechte in der Psychiatrie« berichtete als Zeugin auch Elvira Manthey über ihre Erfahrungen in der Kinderpsychiatrie der Nazizeit. Als Kind von acht Jahren stand sie am 3.9.1940 vor der Gaskammer der Tötungsanstalt in Brandenburg. Hier sollte sie als schwachsinnig vergast werden. Eine Woche zuvor war am 26.8.1940 bereits ihre fünfjährige Schwester Lisa vergast worden. Dass Elvira Manthey wahrhaftig nicht schwachsinnig ist, wird jedem klar, der ihre lebendige Autobiografie »Die Hempelsche« liest. Ihr Mann und sie verlegen und drucken das Buch selbst. Bis heute versucht Elvira Manthey vergeblich ihre diskriminierende Diagnose »schwachsinnig« loszuwerden. Dazu müsste sie psychiatrischen Beistand erhalten, nachdem ein Psychiater sie und ihre Schwester als »lebensunwert« zur Vergasung bestimmte. Wer gibt ihr diesen Beistand? (Elvira Manthey, Grüner Weg 2, 23 566 Lübeck).
Solidarität erwarten wir auch für die von unserem Bundesverband (BPE) geplante Gedenkstätte für die Psychiatrieopfer in der Tiergartenstrasse 4 in Berlin. Hier, wo namhafte Psychiatrieprofessoren ihre Todesurteile nur nach Fragebogen mit einem roten Positivzeichen über Menschen fällten, die sie also nie zuvor gesehen und gesprochen hatten, soll zu ihrem Gedenken ein »Museum der Wahnsinnigen Schönheit«, ein »Haus des Eigensinns« entstehen, dass nicht nur
Kunstausstellungen, Gesprächen und Visionen für eine tolerante Psychiatrie und Gesellschaft offen steht, sondern auch die Ausrottungsmaßnahmen dokumentieren soll.
Da das Berliner Holocaust-Mahnmal nur für die ermordeten Juden sein wird und auch Roma und Sinti eine eigene Gedenkstätte erhalten werden, müssen wir für unser »Haus des Eigensinns« selbst sorgen. Zum Freundeskreis unserer geplanten Gedenkstätte gehören zwar hervorragende Persönlichkeiten wie Horst Eberhard Richter, Walter Jens, Bischof Wolfgang Huber, Ellis Huber und andere - auch Andrea Fischer engagierte sich als Bundesgesundheitsministerin für unser Projekt - aber wir brauchen eine breitere Basis von Menschen, die mit uns darin einig sind, dass die über 200000 in den Psychiatrien ermordeten Erwachsenen und Kinder nicht dem Vergessen anheim fallen dürfen und ihre Leiden zu einer solidarischen Haltung in der Psychiatrie und Gesellschaft führen müssen.