Prof. Wolf-Dieter Narr

Berlin, den 31.5.2000

Eröffnungsrede zur Wanderausstellung:

„The Missing Link
Karl Bonhoeffer und der Weg in den medizinischen Genozid"


Symbole, die die Vergangenheit verhüllen und folgenreiche Rationalisierungen in Gegenwart und Zukunft fortsetzen - Zum Politikum der Karl Bonhoeffer Büsten und Karl Bonhoeffer Ehrenbezeichnungen von Kliniken und der gleichen

1. Es geht nicht um Fleddern von Toten. Karl Bonhoeffer, 1868 geboren, ist Anfang Dezember 1948 einem Schlaganfall erlegen.

Es ist gleicherweise nicht darum zu tun, rückwärts, 52 Jahre nach dem Tod, einen ohne Frage schuldig gewordenen Wissenschaftler und Arzt, einen führenden Vertreter deutscher Psychiatrie in der ersten Jahrhunderthälfte quasi strafrechtlich zu verurteilen. Mit einer solchen Hinterherverurteilung und Individualisierung wurde das, was problematisch, ja verurteilswert mit dem Namen Karl Bonhoeffer verbunden ist, in jeder Hinsicht verharmlost. Die heute zu hörende Botschaft, die „Moral" aus dieser weithin schrecklichen Geschichte, verpuffte ins personalisierte „hätte".

Dass wir uns - oder noch bescheidener gesagt -, dass ich mich mit Karl Bonhoeffer am 31. Mai 2000 in meiner kurzen Eröffnungsrede zu einer Ausstellung befasse, wird durch den anhaltenden Missbrauch von Name, skulptuiertem Gesicht und psychiatrischen Handeln Karl Bonhoeffers begründet. Und dieser Gebrauch oder, je nach Perspektive Missbrauch, ist darum skandalös, weil nicht nur eine ungeheuerliche Vergangenheit hiermit trotz allen Gegenindizien und Gegendarstellungen gedeckt werden soll. Vielmehr soll die Kontinuität und die im Zeichen neuer humangenetischer Möglichkeiten erneut in Richtung „erbgesunder" Menschen forschend agierende Wissenschaft damit ihren menschenenteignenden Folgen büstlich, nominell, symbolisch insgesamt camoufliert werden. Um dieses Skandals willen rückwärts, vor allem gegenwarts- und zukunftsgerichtet, beschäftigen wir uns hier und heute mit Karl Bonhoeffer. Um diesen Skandal erst als Skandal wahrnehmen zu lassen, als Ärgernis, finden diese Ausstellung und ihr redendes, nachdenkliches, agierendes Drum- Herum statt.

2. Karl Bonhoeffers „Fall" ist aus einer Fülle von Gründen lehrreich. In diesem Sinne gilt für ihn das lateinische Motto: mortuus doceat vivos. Er ist lehrreich nicht im Sinne einer einfachen Botschaft, einer simplen Moral. Er ist lehrreich vielmehr dann und nur dann, wenn man die an ihm kenntlichen Gefahren -entsprechend in heutige Bedingungen übersetzt - erkennt, und für selber annimmt. In diesem Sinne sind Empathie und nicht Abwehr die Voraussetzung angemessener Auseinandersetzung und entsprechendes Lernen. Ich sage dies nicht nur, aber auch als der Sohn von nationalsozialistisch gewordenen Eltern, eines Nazifunktionärs, meines Vaters, der hofft, manches aus dem NS daraus gelernt zu haben, dass er in heftigen Auseinandersetzung mit dem bis zu seinem Tod geschätzten, ja geliebten Vater, von der Mutter nicht zu reden, schliesslich gelernt hat. Dass des Vaters Probleme, des Vaters zeitweises nazistisches Sich-Identifizieren, sein Mitlaufen, ja sein Mitmachen nur dann gegenwärtig und zukünftig vermieden werden können, wenn daraus im Sinne dauernd bestehender Gefahren, auch im Sinne von eindeutigen Neins und manchen eindeutigen Jas rechtzeitig und in dauernd denkend handelnder Übung gelernt wird.

An Karl Bonhoeffer kann u.a. folgendes wahrgenommen und der Chance nach durch die Nachgeborenen gelernt werden:

- was es heisst, wenn man sich ohne Abstand zur eigenen Zeit einem naturwissenschaftlichen Glauben anhängt, als könne man das, was Menschen ausmacht, eindeutig identifizieren, sortieren, selektieren, disziplinieren und, dort, wo genau wissenschaftlich identifiziert worden ist, kasernieren, sterilisieren, wenn nicht Personen ihres „unwerten" Lebens wissenschaftlich firm, erleichtern. Als spiele man ein wenig wohlgefälligen Gott.

- was es heisst, zur Autoritätsperson zu werden, indem man die Muster der Zeit übernimmt, um dann Autoritätsperson geworden, sich selbst zum Muster zu erheben, das überall dabei sein muss und die Kunst des Neinsagens nur sachte, nur bürgerlich tolerant betreibt;

- was es heisst, mit mangelndem Abstand zur herrschenden Wissenschaft wie analog dazu zum herrschenden Staat, letzterem auch dann zu dienen, wenn er nationalsozialistisch terroristisch geworden ist, um "Schlimmes" zu verhüten, um Differenzierungen aufrechtzuerhalten in gänzlich entdifferenzierter Zeit. Nicht die eigene Differenzierung, immer schon auf radikal abgründiger „eugenischer Grundlage", die herrschende Nichtdifferenzierung bleibt Sieger. Derjenige, der angeblich das Schlimmere verhüten will, wird selbst Teil des Schlimmen, wird kooptiert. Wird zum Ordinary Man (s. Christopher Browning, Ordinary Men, Police Batallion 101, New York);

- also lautet die hier nur holzschnittartig formulierbare Botschaft:-

zum ersten: Mißtrauen gegen eine sich absolutierende naturwissenschaftlich technologische Medizin (auch andere Arten von wissenschaftlichen Absolutheits- und Heilsansprüchen) und ihre unerträgliche, durch nichts begründete Arroganz. Ausser den nackten Interessen, derjenigen, die sie betreiben und derjenigen, die ökonomisch mit ihrer Hilfe profitieren;

zum zweiten: eindeutiges Halt, principiies obsta, gegen alle Begriffe und Praktiken, die mit „eu" beginnen und abgrundtief, herrschaftsgewitzt lügen: von der Eugenik bis zur Euthanasie. Misstrauen ist sogar gegen Gesundheitsbegriffe bis zum WHO-Begriff angezeigt, die allzu klar Normalität und Nicht-Normalität zu wissen vorgeben und in diverse Praktiken aller möglichen repressiv gerichteten Präventionen verkehren;

zum dritten: nicht nur in Sachen Psychiatrie, in ihr als potentiell totalitärem, die ganze menschliche Existenz umfassenden Unternehmen zu allererst, ist die oft schier exklusive und definitionsmächtige Dominanz der Profession und die mit der Professionalisierung verbundene anstaltsförmige Bürokratisierung an erster Stelle zu bekämpfen, mit dem Ziel diese Dominanz aufzuheben. Mehr denn je gilt: jede Frau, jeder Mann, jedes Mädchen, jeder Junge zählten zuerst. Darum und zu deren Selbstbestimmung, Selbstbewusstsein und an vorderster Stelle zu deren Integrität sind institutionelle, auch zuweilen gesetzesförmige u.a. Hilfen nötig. Jedoch so, dass sie strikt Hilfen bleiben. Nicht mehr, eher weniger.

3. Der Name, die Skulptur, die Geschichte Karl Bonhoeffers, eines Mannes voll der Ambivalenzen, kein ausgeklügelt Buch, eines Mannes, dessen Söhne und Schwiegersöhne mit seinem Wissen gegen den NS ankämpften und diesen mutigen Widerstand zumeist mit ihrem Leben bezahlten, - der Name, die Skulptur, die Geschichte Karl Bonhoeffers, sage ich, wird von denen, die sie heute verwenden, systematisch missbraucht, um ihre eigenen falschen Konzeptionen und Machenschaften zu vertuschen, ja sie mit dem Lorbeerkranz eines falsch geehrten Toten zu bekränzen:

- indem nach 1945 in systematisch beschweigender, vertuschender, Täterinnen und Täter wieder kooptierender „Vergangenheitspolitik", als habe es nur wenige „Böse", wenige Auswüchse gegeben. Die tückische Normalität wurde also verschwiegen. Als sei nicht die naturwissenschaftlich angelegte, schon seit Anfang des XX. Jahrhunderts eugenisch ausgerichtete Psychiatrie der Stein des Anstosses, das, was gründlich zu korrigieren sei. In diesem Sinne dient Karl Bonhoeffer, von ihm selbst nach 1945 noch so eingeleitet, der schieren Restauration: Dasselbe Erklärungsmuster bot er auch seinen medizinischen Kollegen an: "Die deutsche Psychiatrie hat...durch die systematische Tötung von Tausenden von Geisteskranken...während des Krieges...begreiflicherweise einen schweren Schaden an Vertrauen im In- und Ausland genommen". Dennoch könne eine "solche Entartung des ärztlichen Denkens einzelner fanatisierter führender nationalsozialistischer Ärzte dem deutschen Psychaiter generell" nicht unterstellt werden. Damit legte Bonhoeffer die Linie von selbstmitleid, Abschieben der vErantwortung und von der Wahnhaftigkeit des Nationalsozialismus mit fest und leistete damit in seinen letzten Lebensjahren eine wichtigen beitrag für das selbstverständnis und den "Wiederaufbau der bundesrepublik Deutschland." (s. Ursula Grell: Karl Bonhoeffer und die Rassenhygiene, in Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Klinik: Tot geschwiegen 1933-1945. Zur Geschichte der Wittenauer-Heilanstalten. Seit 1957 Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, Berlin 1989, 2. Auflage. S. 207-218, 214f.);

- indem man sich, gedeckt vom falschen Lorbeerkranz, bis heute verweigert, all die nötigen psychiatrischen und anstaltsbezogenen Konsequenzen, personell, jedoch vor allem im wissenschaftlich-bürokratischen, im herrschaftlichen Ansatz zu ziehen. Darum werden auch die nicht direkt psychiatrisch involvierten zuständigen politischen Institutionen und Repräsentanten nicht aktiv;

- indem man das, was sich heute in Sachen Humangenetik tut, und was morgen Praxis werden könnte, schon vorweg den Unschuldsmantel umlegt. Das, was braun, geradezu tiefbraun gewesen ist, um Konrad Adenauer über seinen Staatssekretär Globke zu zitieren, dem führenden Kommentator der Nürnberger Rassengesetze, das hat man schon allein infolge der Zeit „überwunden". Das, was jedoch schon von 1933 und das, was nach 1945 biologistisch und mehr oder minder sublim eugenisch euthanasianisch gedacht, experimentiert und vernichtet worden ist, das will man - Karl Bonhoeffer sei symbolisch hochgehalten - vor- und nachkritisch erhalten. Damit wissenschaftlich ökonomisch abgesicherte Ungeheuerlichkeiten normal werden, normal bleiben und uns alle in ihrer Normalität zur Akzeptanz dressieren können.

In diesem Sinne eröffne ich die Ausstellung, zunächst die weiteren Redebeiträge.

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